Samstag, 26. Dezember 2009

Kinky, Kinky! Lucio Fulcis UNA SULL'ALTRA



Una sull’altra
(Perversion Story aka Nackt über Leichen) – I-F-E 1969 – Regie: Lucio Fulci – Kamera: Alejandro Ulloa – Produktion: Edmondo Amati, Maurizio Amati (Empire Films; Productions Jacques Roitfeld; Coop. Trébol Films) – Schnitt: Ornella Micheli – Drehbuch: Lucio Fulci (auch Story), Roberto Gianviti (auch Story), José Luis Martínez Mollá – Musik: Riz Ortolani – Darsteller: Jean Sorel (Dr. Geroge Dumurrier), Marisa Mell (Susan Dumurrier / Monica Weston), Elsa Martinelli (Jane), Alberto de Mendoza (Henry Dumurrier), John Ireland (Inspector Wald), Lucio Fulci (Graphologe) u.a. – FSK: 16, nicht feiertagsfrei – Länge: 99 min. – Erstaufführung Italien: 15.08.1969, deutsche Erstaufführung: 24.09.1971

Lucio Fulci war in allen Genres zuhause. Der 1927 in Rom geborene Regisseur drehte von den späten 1950er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1997 über 50 Filme. Darunter waren so bodenständig-biedere Werke wie die Heinz-Rühmann-Komödie
Operazione San Pietro (Die Abenteuer des Kardinal Braun; 1967), Italowestern wie der solide Rache-Western Tempo di massacro (Django – Sein Gesangbuch war der Colt; 1966) und der geradezu delirierende I Quattro dell’apocalisse (Verdammt zu leben – verdammt zu sterben; 1975), der retrospektiv wie der letzte Geisterhauch des Genres in Europa wirkt. Hinzu kommen eher auf ein bäuerlich-proletarisches Publikum ausgerichtete Genreparodien mit dem in Italien äußerst populären Komikerpaar Ciccio Ingrassia und Franco Franchi, etwa die Filme über den Agenten „002“, die nicht nur die James-Bond-Serie, sondern auch die Welle der „Eurospy“-Thriller veralberten, sowie Abenteuerfilme nach Jack London, Thriller, Endzeitfilme und Gangsterfilme. Und, natürlich, die blutrünstigen Horrorfilme, für die der Regisseur außerhalb Italiens wohl am Besten bekannt ist. Zwar belegen diese Filme Fulcis sicheres Gefühl für Atmosphäre (egal wie hundsmiserabel die Schauspieler agieren und wie billig die Spezialeffekte sind). Sie schrecken aber zugleich vor kaum einer Scheußlichkeit zurück, sondern bieten sie im offensiven Zeigegestus dar: In L’aldila (Geisterstadt der Zombies; 1981), Fulcis vielleicht schönstem Horrorfilm, dem Dietmar Dath mit Die salzweißen Augen (2005) eine Hommage erwies, durften die wohl unglaubwürdigsten Plastik-Vogelspinnen der Filmgeschichte eine menschliche Zunge zerfleischen (!) und einem Unglückseligen die Augen herausreißen (!), in Paura nella città die morti viventi (Ein Zombie hing am Glockenseil; 1980) erbrach eine Protagonistin gleich ihre eigenen Gedärme, was dramaturgisch zwar eher sinnlos war, aber als Zirkus-Attraktion dargeboten in sich seinen eigenen Wert besaß.

Fulci war zuvorderst Genreregisseur; ein Filmemacher, der seine Filme für das Publikum und nicht für die Kritiker drehte. Und da er nicht selten das Publikum in den zweit- und drittklassigen Kinosälen im Auge hatte, war er bestrebt, die thrills zu liefern, nach denen es diesem verlangte, also vor allem Sex & Crime bzw. kiss kiss, bang bang. Mit dem Niedergang der Terza visione-Kinos Ende der 70er Jahre, dem Anstieg der durchschnittlichen Eintrittspreise und dem damit einhergehenden Verschwinden eines bestimmten Stils des Populär- und Genrekinos in Italien, wandelte sich im zeitlichen Abstand auch die Rezeption von Fulcis Filmen. Heute befinden sich – nicht nur in Italien – auch einige Akademiker unter seinen Fans. Und einige seiner Filme sind es durchaus wert, noch einmal gesehen zu werden.


Una sull’altra (1967), von dem in den USA bei dem Label „Severin“ eine gute DVD-Edition erscheinen ist, ist einer dieser Filme und zählt doch zu den eher unbekannten Werken des Regisseurs. Das liegt vielleicht daran, dass er weder Western noch Horrorfilm ist und damit vordergründig etwas aus dem Œuvre des Maestro fällt. Am ehesten lässt sich der Film als Hybrid aus den in Italien zeitweise populären „Film sexy“ und den Gialli bezeichnen, ohne jedoch mit blutigen Morden im Stil Dario Argentos oder Sergio Martinos aufzuwarten. Der Originaltitel verspricht bereits Schlüpfriges und könnte übersetzt werden mit „Eine auf der Anderen”. Der (aktuelle) US-amerikanische Verleihtitel ist noch weniger subtil: Er kündigt gleich eine „Perversion Story“ an, in Deutschland erschien Una sull’altra unter dem spekulativen Dada-Titel „Nackt über Leichen“. Der Plot ist schnell erzählt: Die Ehe des wohlhabenden Arztes George Dumurrier (Jean Sorel) mit der kränklichen Susan (Marisa Mell) befindet an einem Tiefpunkt. Als Susan unter mysteriösen Umständen stirbt, gerät der notorisch untreue Ehemann schnell unter Verdacht. Nach dem Tod seiner Frau lässt sich George im Rotlichtbezirk von San Francisco treiben und lernt dabei eine Stripperin kennen, die seiner verstorbenen Frau wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als weitere Indizien auftauchen, die nahelegen, dass George seine Frau ermordet hat, wird er zum Tode verurteilt. Im letzten Moment kommt ihm der Zufall zu Hilfe ...



Was Una sull’altra heute äußerst reizvoll macht, sind seine manieristischen, extrem überzogenen und oft verblüffenden Stilismen, die ausdrücklich nicht im Dienst eines realistisch-glaubwürdigen filmischen Erzählens stehen. So richtet Fulci eine Vielzahl explizit antinaturalistische Kameraperspektiven ein. Da wäre etwa der „unmögliche“ Blick der Kamera aus einem Kühlschrank heraus auf die Protagonisten; ein irritierend künstlicher Moment, wie er im US-amerikanischen Kino erst mit Filmen wie Blood Simple (1984) von den Coen-Brüdern etabliert wird. In einer anderen Szene blickt die Kamera dann tatsächlich aus dem Fußboden eines Appartements heraus auf die Figuren hinauf, also über eine im Boden des Studios eingelassene Glasplatte. In einer anderen Sequenz wird ein Liebespaar beim Akt durch einen filigranen Stoff gefilmt. Immer wieder verzerren Weitwinkel die vertikalen Linien am Rand des Blickfelds, häufig wird das Geschehen durch Spiegel gefilmt, schnelle Zooms gegen etablierte Sehkonventionen gerichtet eingesetzt und subjektive Einstellungen verwendet, die bisweilen mit Handkamera gefilmt sind. Eine Obduktionssequenz realisiert Fulci mittels Splitscreen, wobei in den einzelnen frames dekorativ Glaskolben und Destillierutensilien drapiert sind, in denen Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens brodeln. Immer wieder werden Bilder streng in zwei Ebenen von gleicher Größe geteilt, mit einer Großaufnahme in der einen und einer Halbtotalen in der anderen Hälfte. Teilweise nutzen Fulci und sein Kameramann Alejandro Ulloa dafür wie Orson Welles und Gregg Toland in Citizen Kane (1941) geschliffene Linsen. Das hierarchisiert die Bilder, veräußerlicht Machtverhältnisse, die sich doch oft als trügerisch erweisen. Am Ende des Films steht dann eine recht konventionelle Auflösung, bei der der tragische, zu unrecht zum Tode verurteilte Ehebrecher ironischerweise durch ein Verbrechen aus Leidenschaft gerächt wird. Aber auch hier gelingt Fulci eine nachhaltige Irritation: Unser Held verschwindet kurz vor dem Ende des Films vollständig aus dem Film. Das letzte Mal erblicken wir George, nachdem er die Gaskammer betreten hat. Dass er überlebt hat, erfahren wir nur aus dem Radio. Das untergräbt das, nun ja, „Happy-End“ des Films und irritiert nachhaltig: Der Protagonist mag nicht tot sein, aber seine vollständige Abwesenheit wirkt doch deutlich gegen die Konventionalität der Auflösung. In einer gewissen Weise ist der untreue Ehemann zumindest im filmischen Raum mit dem Schritt in die Gaskammer gestorben.



Tatsächlich ist Una sull’altra längst nicht so low-brow, wie man zunächst annehmen mag. Insbesondere filmische Querverweise bringt Fulci mit geradezu postmodernem Selbstbewusstsein ein. Da sind etwa die Referenzen auf Michelangelo Antonionis Blow up (1966), wenn die Geliebte des Helden, eine Fotografin, im Atelier Sexbilder im Popart-Stil anfertigt und wie David Hemmings blasierter Fotograf ein Modell beim Fotoshooting verführt. Aus Hitchcocks Universum kommt natürlich der unschuldig verurteilte Held, der selbst lange ambivalent bleibt. Die Bezüge auf einen von Hitchcocks bekanntesten Klassikern sind besonders auffällig, ganz offensichtlich im Handlungsort San Francisco und in der Montage halluzinatorischer Tagtraumsplitter, in denen dem Protagonisten beim Sex mit der Doppelgängerin seiner Frau die bleiche, vermeintlich tot aufgebahrte Ehefrau erscheint. Sieht man von den etwas aufgesetzt wirkenden Sexszenen, der eher zahmen lesbischen Verführungssequenz mit sadomasochistischen Untertönen und den Besuchen in Stripclubs ab, wird offensichtlich, dass Fulci tatsächlich eine italienisierte Sexploitation-Variante von Vertigo (1958) gedreht hat.



Donnerstag, 10. Dezember 2009

Eastern/Western: Ferdinando Baldis BLINDMAN



blindman
/ il cieco / blindman, der vollstrecker – Italien-USA 1971 – Regie: Ferdinando Baldi – Produktion: Tony Anthony, Allen Klein, Saul Swimmer – Story: Tony Anthony – Buch: Tony Anthony, Pier Giovanni Anchisi, Vincenzo Cerami – Kamera: Riccardo Pallottini – Musik: Stelvio Cipriani – Darsteller: Tony Anthony („Blindman”), Ringo Starr („Candy”), Lloyd Battista („Domingo”), Magda Konopka („Sweet Mama”), Raf Baldassarre (mexikanischer General), Agneta Eckemyr u.a. – Länge: 105 Min. – Format: Techniscope, 2.35:1 – Deutsche Erstaufführung: 08.06.1972 – DVD von Koch Media (ungekürzt, im Originalformat, inklusive Bonusmaterial und Originalfassung mit Untertiteln)


Die Idee, als Protagonisten eines Western einen blinden Revolvermann einzusetzen, dürfte eine der abstrusesten Ideen in der Geschichte des Genres sein. Und entsprechend verwundert es kaum, dass sich hinter dem programmatischen Titel blindman kein US-amerikanischer Genrebeitrag verbirgt, sondern ein im Wesentlichen italienisch finanzierter Western. Die Idee für diesen Film kam dem Team um Hauptdarsteller / Koproduzenten / Koautoren Tony Anthony vermutlich während der Dreharbeiten von lo straniero di silenzio aka the silent stranger (Der Schrecken von Kung-Fu; 1968), dem ersten Italowestern, der nicht nur in Japan gedrehte wurde, sondern auch thematisch den Chambara mit dem Western all’italiana kombinierte. Dabei besitzt Japan eine lange Tradition von Genrefilmen über den blinden Samurai (und Masseur) Zatôichi, die bis heute mehr als zwanzig Filme hervorgebracht hat und das unmittelbare Vorbild zu Ferdinando Baldis blindman darstellt.


Tatsächlich begann Ende der 1960er / Anfang der 70er Jahre auch das asiatische Kino zunehmend auf die Italowestern zu reagierten. In zatôichi to yôjinbô (Zatoichi meets Yojimbo; 1970), dem zwanzigsten Film der zatôichi-Serie, verwies die Bestellung von vier Särgen nicht mehr nur auf Kurosawas yojimbo (1961), sondern auch auf die entsprechende Szene aus dem europäischen Remake per un pugno di dollari (Für eine Handvoll Dollar; 1964; R: Sergio Leone). Einflüsse des Italowestern auf die japanische kozure ôkami-Serie (1972ff.), die Hong-Kong-Produktionen der Shaw Brothers und ihrer Konkurrenzfirma Golden Harvest sowie auf John Woos kinetische Gewaltballette und Tsui Harks Wuxia-Filme sind ebenfalls unverkennbar. So zitierte z.B. Bruce Lees in Rom gedrehte Regiearbeit meng long guo jiang (Die Todeskralle schlägt wieder zu; 1972) mehrfach musikalisch c’era una volta il west (Spiel mir das Lied vom Tod; 1968; R: Sergio Leone). Filme wie zhan shen tan (Die Todesbucht der Shaolin; 1973) verwiesen explizit auf Leones „Dollar“-Trilogie und Lung Chiens tang ren piao ke (Wang Yu – Stärker als 1000 Kamikaze; 1973) verwendete etwa Morricones Titelthema von il buono, il brutto, il cattivo (Zwei glorreiche Halunken; 1966). Besonders die Hong-Kong-Produktionen der 60er und 70er Jahre integrierten internationale Einflüsse. Das Shaw-Studio, das ab Mitte der 50er Jahre Musicals, Melodramen, Opern-Adaptionen, Martial-arts- und Wuxia-Filme produzierte, begann Ende der 60er Jahre, sich an internationalen Mischformen zu beteiligen. Die Filme von Chang Cheh und King Hu übernahmen z.B. Motive aus dem japanischen Genrekino und dem Western all'italiana, darunter die übertriebenen Sound-Effekte, neue Kamera- und Schnitttechniken und den Einsatz des Zooms. Parallel dazu entstanden in Italien Westernmixturen mit japanischen Schauspielern, z.B. Tonino Cervis oggi a me ... domani a te (Heute ich, morgen du; 1968) mit Tatsuya Nakadai, dem Schurken aus yojimbo, und Terence Youngs soleil rouge / sole rosso (Rivalen unter roter Sonne; 1971) in dem Charles Bronson, Toshirô Mifune und Alain Delon die Hauptrollen übernahmen. Anfang der 70er Jahre erschienen weitere Italowestern-Martial-arts-Kreuzungen, etwa il mio nome è shangai joe (Der Mann mit der Kugelpeitsche; 1972) und che botte, ragazzi (Zwei durch dick und dünn; 1975). Die Shaw Brothers, zu dieser Zeit auch an Koproduktionen mit dem britischen Hammer Studio beteiligt, produzierten bald italienisch-chinesische Gemeinschaftsprojekte wie là dove non batte il sole (The Stranger and the Gunfighter; 1974) mit Lee Van Cleef und Lieh Lo, Golden Harvest finanzierte ähnliche Hybride.


Der von der zatôichi-Reihe inspirierten blindman ist also zumindest im Hinblick auf seine Genese nicht so ungewöhnlich, wie er zunächst erscheinen mag. Er ist auch keine unmittelbare Fortsetzung der „Stranger“-Filme, die der ehemalige Method actor Tony Anthony zuvor mit Luigi Vanzi inszeniert hat (neben lo straniero di silenzio erstellte das Team die minimalistischen Low-Budget-Western un dollaro tra i denti [Ein Dollar zwischen den Zähnen; 1967] und un uomo, un cavallo, una pistola [Western Jack; 1967]). Zwar hat Anthonys Protagonist hier wie in den Vorgängerfilmen keinen Namen. Doch schon in seiner Kleidung unterscheidet sich der blinde Revolverheld, der für 50 000 Dollar die Aufgabe übernommen hat, 50 Katalogbräute (!) durch die Wüste zu treiben und diese an eine Gruppe texanischer Bergarbeiter abzuliefern: Statt des abgerissenen Stetson des „Strangers“ trägt Anthony diesmal ein Ungetüm auf dem Kopf, das ein wenig wie ein geschmolzener, brauner Zimmermannshut aussieht und zusätzlich mit einem kleinen Patronengurt versehen ist. Auch das rosa Hemd, der Poncho und die schwarze Mähre der Vorgängerfigur fehlen. Stattdessen hat er nun ein Blindenpferd, einen behindertengerechten Kompass, einen zerschlissenen Duster und ein Repetiergewehr mit Bajonettaufsatz, das ihm als Blindenstock dient.



Ähnlich wie der „Stranger“ ist der Protagonist ein alles andere als souveräner Held und wird kaum je von seiner Umwelt ernst genommen. Überhaupt ist der Plot als weitgehend sinnfreie Abfolge von Demütigungen und Vergeltungsaktionen angelegt. Schon als wir den Blinden kennenlernen, haben ihn seine Partner übers Ohr gehauen und der Anblick, wenn er am Schwanz seines Pferdes festgeklammert in eine Stadt einzieht, ist einfach nur erbärmlich. Zwar kann der Blinde die Männer, die ihm die Frauen gestohlen haben (gespielt vom Beatles-Produzenten Allen Klein und dem Beatles-Roadie Mal Evans), in die Luft sprengen. Die 50 Frauen jedoch befinden sich mittlerweile in der Gewalt des psychotischen Banditen Domingo (Lloyd Battista), seines debilen Bruders Candy (Ringo Starr [!] in seiner einzigen Westernrolle) und ihrer sadistischen Schwester Sweet Mama (Magda Konopka). Zusammen mit der Dorfschönheit (Agneta Eckemyr) und einem mexikanischen General (Raf Baldassarre) kann „Blindman“ zwar Domingo und Konsorten ausschalten, am Ende werden ihm die Frauen allerdings von dem Mexikaner geraubt. Wie in Vanzis vorangegangenen Anti-Western ist der Held am Ende der Verlierer.


Anthony beschrieb seine Rolle einmal als einen eher alltäglichen Helden: „He’s not your typical gunslinger. He’s more of an existential hero […]. I never wanted to be a superhero; I felt audiences could relate to me as someone in the street.” Tatsächlich dürften der Schauspieler und sein Regisseur Baldi mit diesem Film den wohl verletzlichsten Italowestern-Protagonisten erschaffen haben. Der Film nimmt sich erstaunlich viel Raum, das Handikap des Blinden ins Bild zu setzen, etwa wenn er mühsam ein Hotelzimmer bezieht oder ohne sein Gewehr und Pferd hilflos herumirrt. Letztlich ist blindman aber vor allem ein groß angelegter Action-Western, der aufgrund des enormen Budgets mit einigen beeindruckenden Massenszenen und guten Sets aufwarten kann, durch die die bizarren Elemente des Films noch stärker zum Tragen kommen. Das Prinzip beschrieb Anthony einmal als: „Everything was exaggerated, then played straight”. So bewohnen die baddies etwa ein mittelalterliche Schloss, das Gros der Bande wirkt weniger wie Mexikaner, sondern eher wie eine Kreuzung aus Hippies und Heavy-Metal-Barbaren. Ansonsten erweist sich Baldi als Meister im Einrichten mehr oder weniger metaphorischer Kastrationsbilder. Als der Blinde mit „Sweet Mama“ kämpft, beißt diese ihn z.B. zwischen die Beine. Nachdem er ihr mit seinen Schenkeln das Genick gebrochen hat (!), kommentiert er schockiert: „Being without eyes is one thing, but without that … whew!“ Das Thema Nekrophilie wird ebenfalls gestreift, wenn die Dorfschönheit in einer groß angelegten Hochzeitsszene gezwungen werden soll, den mittlerweile toten Candy zu heiraten. Die ausführliche Sequenz, in der die 50 Frauen dann nackt in einer riesigen Waschküche zum Verkauf zurechtgemacht und dazu eimerweise mit Wasser übergossen werden, atmet ähnlich wie die Sequenz, in sie halbnackt durch die Wüste getrieben werden, den Geist niedersten Exploitation-Kinos.


In den USA wurde der für 1,3 Millionen Dollar gedrehte und von den Kritikern einhellig verrissene Film kein überragender Erfolg. Ein Rezensent (Donald Mayerson) beklagte die „excessive, pointless, and sadistic violence, as well as [a penchant for] undraping women in the most humiliating way”. Dem kann man kaum widersprechen, insbesondere da genau dies das Ziel der Filmemacher gewesen sein dürfte. Außerhalb der USA spielte der Film allerdings über 15 Millionen ein und wurde ein enormer kommerzieller Erfolg. In der pakistanischen Großstadt Karatschi lief er angeblich sogar sechs Monate ununterbrochen in einem stets ausverkauften Kino. Heute ist er ein Kuriosum aus einer Zeit, in der in Europa Genrefilme am Fließband hergestellt wurden, die trotz ihrer oft kruden Plots handwerklich erstaunlich gut gearbeitet sind und als Unterhaltungsfilme äußerst effektiv funktionieren.



Sonntag, 29. November 2009

Out now: Sergio Leone bei Bertz + Fischer!



Seit etwa zwei Wochen ist mein Leone-Buch erschienen und endlich lieferbar!

Wer sich einen ersten Eindruck von dem Buch verschaffen will, kann auf der Seite meines Verlages das Inhaltsverzeichnis und ein Probekapitel lesen.

Zum Buch:

Sergio Leone (1929-1989) war einer der bedeutendsten Regisseure des italienischen Nachkriegskinos. Sein Werk nimmt sowohl im Hinblick auf seine künstlerische Qualität und seinen enormen Einfluss auf das italienische Genrekino als auch in Anbetracht seiner überragenden kommerziellen Erfolge eine Sonderstellung ein. Schon Leones zweite Regiearbeit, der Western per un pugno di dollari (für eine handvoll dollar; 1964), avancierte trotz des äußerst geringen Budgets schnell zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und zog eine Welle von über 500 italienisch-europäischen Westernproduktionen nach sich, die gleichzeitig Höhe- und Endpunkt des „ökonomischen Wunders“ des italienischen Nachkriegskinos markierten. Auch nach seinem ersten Erfolg blieb Leone dem Genrekino treu: per un pugno di dollari ließ er vier weitere Western all´italiana nachfolgen und mit once upon a time in america (es war einmal in amerika; 1984), seiner einzigen maßgeblich US-amerikanisch finanzierten Produktion, widmete er sich dem Gangsterfilm.

Das vorliegende Buch liefert eine hermeneutische Analyse von Leones Œuvre inklusive ausführlicher Filmanalysen von il colosso di rodi (der koloss von rhodos; 1961) bis once upon a time in america (1984). Dabei werden in den Einzelanalysen kulturelle Aspekte des jeweiligen Entstehungskontextes sowie die zeitgenössische Rezeption berücksichtigt und die Filme in ihren jeweiligen Genrekontext eingeordnet – vom Peplum und den Varianten des Western all´italiana bis zum Gangsterfilm. In werkübergreifenden Kapiteln werden des Weiteren Aspekte des filmindustriellen transatlantischen Kulturtransfers dargestellt, die Genderdiskurse in Leones Filmen herausgearbeitet und die besondere Bedeutung von Ennio Morricones Filmmusik insbesondere für c’era una volta il west (spiel mir das lied vom tod; 1968) dargestellt. Abschließend wird Bildgestaltung und Montage von Leones Filmen sowie der immense Einfluss seines Werks auf Filmproduktionen bis in das Gegenwartskino hinein untersucht.


Montag, 19. Oktober 2009

Update: Sergio Leone – Es war einmal in Europa


Ein kurzes Update zu meinem Sergio-Leone-Buch, das im Bertz + Fischer-Verlag erscheint: Die letzten Korrekturen sind umgesetzt und heute Morgen sind die Druckfahnen an die Druckerei geschickt worden. In ca. drei Wochen wird mein Buch dann endlich in der Buchhandlung eures Vertrauens erhältlich sein!
Auf 400 Seiten und mit 363 Fotos anschaulich bebildert finden sich Analysen aller Regiearbeiten Leones, biografische Informationen, die bislang ausführlichste Filmografie Leones sowie detaillierte Abhandlungen zum visuellen Erzählen Leones, seinem Einfluss auf gegenwärtige Regisseure und zur Filmmusik Ennio Morricones.
Viel Spaß beim Lesen!


Dienstag, 13. Oktober 2009

Who can kill a child? - CASE 39


Case 39 – USA 2009Regie: Christian AlvartBuch: Ray WrightKamera: Hagen BogdanskiProduzenten: Steve Golin, Kevin MisherMusik: Michl BritschSchnitt: Mark GoldblattDarsteller: Renée Zellweger, Jodelle Ferland, Ian McShane, Kerry O’Malley, Callum Keith Rennie, Bradley Cooper, Crystal Lowe u.a.

Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus der Masse der kulturindustriellen Kopien stechen als vergleichsweise originäre Spielart bestenfalls die oft als „torture porn“ abgeurteilten Varianten heraus, die Hostel-Filme von Eli Roth und die Saw-Reihe etwa. Auf der Suche nach neuen Stoffen hat Hollywood auf asiatische und europäische Genreinnovatoren wie Ryûhei Kitamura (The Midnight Meat Train; 2008) und Alexandre Aja (Mirrors; 2008) zurückgegriffen. Mit Christian Alvart durfte sich nun auch ein weiterer deutscher Regisseur für die Paramount an einem Horrorfilm versuchen, die abgesehen von Marcus Nispels Friday the 13th-Remake in den letzten Jahren kaum Genreproduktionen vorzuweisen hat.

Herausgekommen ist auch hier nur ein Potpourri bekannter Motive und mehr oder weniger gelungener Reminiszenzen als ein neuer Impuls für das Genre, das aktuell in Frankreich reüssiert. Wie in The Omen (Das Omen; 1976) gibt es ein kleines Kind, süß anzusehen, doch todbringend für seine Bezugspersonen; das Thema der dämonischen Besessenheit ist u.a. in The Exorcist (Der Exorzist; 1973), Ringu (Ring; 1998) und seinen amerikanischen Remakes abgehandelt worden. Mit der Ermittler-Figur von Ian McShane (der großartige Al Swearengen aus der HBO-Serie Deadwood!) werden Motive des Polizeifilms eingebracht, die Morde selbst sind als set-pieces mit Anklängen an die Final Destination-Reihe inszeniert. Und wenn die Kamera Hagen Bogdanskis, der u.a. Das Leben der Anderen (2006) und Die Unberührbare (2000) fotografiert hat, das Haus einer Unterschichtfamilie erkundet, dann erscheinen die Innenräume wie in jedem x-beliebigen Backwood-Horrorfilm verwittert, mit den obligatorischen korrodierten Flächen, matter Patina, allerlei ungesundem Moder und verdächtigen Schrammen. So entsteht letztlich ein Flickwerk, das ästhetisch durch die Verwendung kalter, blaugrauer Farbtöne zusammengehalten wird, die durch den exzessiven Einsatz von Farbfiltern und durch das Setdesign nahezu alle filmischen Räume bestimmen. Schlaftabletten sind blau, Pappbecher in einer Nervenheilanstalt mit blauem Design bedruckt und Erbsen so blau-grün wie in Scorseses The Aviator (2004). Manchmal wirken die Menschen wie bleiche Zierfische in einem überdimensionierten Aquarium. Wenn die von Renée Zellweger gespielte Heldin ihr Haus in Brand setzt, dann rettet sie, was auch sonst, lieber ihren Goldfisch als ihr neues, teuflisches Adoptivkind.


Alvart hat früher das Filmmagazin X-Tro herausgegeben und nach seinem Debütfilm Curiosity & the Cat (1999) mit Antikörper (2005) einen deutschen Serienmörderthriller inszeniert. Fraglos kennt er sich mit der Geschichte des Genres aus. Aber ähnlich wie in Antikörper bleibt hier vieles zu offensichtlich, zu durchschaubar, zu sehr auf den Effekt hin angelegt. Antikörper versprach mit einem Dostojewski-Zitat am Anfang, der authentischen dörflichen Szenerie und guten Schauspielerleistungen existenziell Tiefgründiges, um letztlich als halbgare Variation von The Silence of the Lambs (Das Schweigen der Lämmer; 1991) zu enttäuschen. Auch Case 39 erzählt im Kern einen für das Genre eigentlich ungewöhnlichen Stoff. Die Geschichte der Sozialarbeiterin Emily (Zellweger), die unerwartet zur alleinerziehenden Mutter wird, als sie die kleine Lillith (Jodelle Ferland) aufnimmt, ist in einem von teenage angst beherrschten Genre als Allegorie für die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter nicht unbedingt ein Allerweltsstoff. Schnell entwickelt sich das kleine Mädchen zur veritablen häuslichen Tyrannin – Nomen est Omen: ein enfant fatal – und Freunde und Bekannte sterben auf mysteriöse Weise. Metaphorisch erzählt Alvart davon, wie der unfreiwilligen Mutter alle sozialen Kontakte wegbrechen, das Leben nur mehr an ihr vorbeirauscht, ganz wörtlich in den Szenen im Büro, in denen er Zeitraffer einsetzt. Bald erscheint jede im nervigen Singsang vorgetragene Bitte als Erpressung, eingeforderte Liebesbekundungen werden mit geheuchelten Notlügen beantwortet; am Ende steht Vereinzelung, häusliche Gewalt und Paranoia. Doch wenn Alvart dann diese Metaebene direkt thematisiert, indem er in Rückblenden von der unglücklichen Kindheit Emilys erzählt, dann vollzieht er keine Wendung zum psychologischen Horror. Es bleibt nur ein halbherziger Versuch und ein Wink mit dem Zaunpfahl für besonders begriffsstutzige Zuschauer. Was zur bösen Variante von Rosemary’s Baby (1968) als Geschichte getrübter Wahrnehmung hätte werden können – und damit spielt der Regisseur mehrmals – geriert zum bierernsten Dämonenhorror. Dafür geht Alvart allerdings Sam Raimis irrwitzige Überdrehtheit ab, die selbst dem PG-13-Horrorfilm Drag Me to Hell (2009) noch einen eigenen Reiz verlieh. Wenn erst einmal die Fratze des Dämons das Kindergesicht verzerrt, dann ist dem Stoff endgültig die Ambivalenz ausgetrieben. Wie viel unheimlicher war da doch Narciso Ibáñez Serradors ¿Quién puede matar a un niño? (Ein Kind zu töten ...; 1976), in dem wir netten, lachenden Nachbarskindern begegneten, die einen Alten einfach totschlagen und ihn dann aufzurren, um ihn mit einer Sichel bewehrt als Piñata zu verwenden. Aber die wilden 70er Jahre sind lange schon vorbei.


Was der Handlung an Tiefgang abgeht, versucht das Sounddesign mit Krawall und Dauerberieselung zu übertünchen. Immer wieder werden unerwartete Geräusche als akustische Schockmomente eingesetzt: ein Hund, der überraschend bellt; eine Hand, die urplötzlich an eine Scheibe klopft; ein Wecker, der losrasselt. Ein, zwei, vielleicht auch ein drittes Mal funktioniert das. Aber wieder und wieder den gleichen Effekt einzusetzen, bewirkt Gewöhnung und schließlich Langeweile. Einmal wird das Surround-Sounddesign effektiv eingesetzt: in einer gelungenen Szene, wohl eine Reminiszenz an Candyman (1992) und The Believers (1987), wenn Hornissen wütend surrend quer durch den Kinoraum rauschen und nachdrücklich zur Intensität des Terrors auf der Leinwand beitragen. Grundsätzlich aber fällt auf, wie überladen der Soundtrack ist; fast ununterbrochen klimpert, raunt oder dröhnt es. Wie viel drohender wäre da wenigstens einmal eine unerwartete Abwesenheit von Geräuschen, Musik und Atmo gewesen, statt ein weiteres Mal eine dämonische Macht gegen Türen anrennen oder Schlösser zerdreschen zu lassen, dass es nur so rumpelt und scheppert. Stilistisch erinnert der Film dabei an eine moderate Version dessen, was David Bordwell als Stil einer „intensivierten Kontinuität“ beschrieben hat: nicht eigentlich eine Abweichung vom klassischen, kausal-narrativen Stil Hollywoods, aber doch eine auffällige Dominanz von Großaufnahmen (hier als Teleeinstellungen der Protagonisten vor unscharfem Hintergrund) und scheinbar unmotivierter Kranfahrten und Aufsichten. Oder wie Mike Figgis es formulierte: "If somebody goes for a piss these days [...] it's usually a crane shot."


Völlig verschenkt ist auch Case 39 nicht. Bogdanskis Kameraarbeit hat ihren Reiz, und letztlich ist der Film durchaus kurzweilig. Nur etwas Neues bekommt man nicht geboten. Aber vielleicht tut man Alvart auch unrecht, denn einige abrupte Momente lassen eine nicht ganz glückliche Produktionsgeschichte dieses Films vermuten, dessen Dreharbeiten bereits 2006 begonnen wurden. Warten wir einmal ab, denn mit Pandorum hat Alvart bereits sein nächstes Projekt abgeschlossen.


Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009 (also vor dem Start von Pandorum)


Sonntag, 20. September 2009

Silence Under the Fist: Nicolas Winding Refns BRONSON


Bronson – UK 2009 – Regie: Nicolas Winding Refn – Drehbuch: Brock Norman Brock und Nicolas Winding Refn – Produzent: Daniel Hansford, Rupert Preston – Kamera: Larry Smith – Schnitt: Matthew Newman – Darsteller: Tom Hardy, Matt King, William Darke, Amanda Burton, James Lance u.a.


Die Pet Shop Boys und New Order, Verdi (Nabucco, La forza del destino und Attila), Puccini (Madama Butterfly), Richard Strauss (Eine Alpensinfonie) und, natürlich: Wagner (Siegfrieds Trauerzug und Das Rheingold). Die Filmgeschichte betreffend: A Clockwork Orange (1971) und Chopper (2000), Shock Corridor (1963), Scum (1979) und Ghosts... of the Civil Dead (1988), britische Gangsterfilme wie Villain (1971) und The Long Good Friday (1980) und, natürlich: Charles Bronsons stoisch-verschlossene Männlichkeit, etwa aus Michael Winners Chato’s Land (1972) oder Walter Hills Hard Times (1975). Dazu: Vaudeville, Episodenstruktur, Schockstrategien. Eigentlich sagt das schon alles über diesen Film: disparate Einzelstücke der populären und der legitimen Kultur, vermischt zu einem antiorganischen Gebräu. Ein Ganzes ergibt sich daraus nicht, soll es auch nicht, warum auch?


Der 39-jährige Däne Nicolas Winding Refn hat sich in seinen frühen Filmen, in der Pusher-Trilogie (1996-2005) und in Bleeder (1999) an Regisseuren wie Scorsese orientiert, an der Unmittelbarkeit von Mean Streets (1973), an der selbstzerstörerischen, dislozierten Männlichkeit von Figuren wie Jake La Motta in Raging Bull (1980). Die Protagonisten Refns leben und sterben in einer grauen, kalten Welt, in der ihr Wissen um die Popkultur ihnen keine Orientierung bietet. In Bleeder stehen diese Thirtysomethings in einer abgeranzten Videothek herum und zitieren sich durch die abseitigen Regionen der Filmgeschichte, aber in ihren Beziehungen, als Ehemänner, Partner oder Väter oder auch nur halbwegs kompetente zwischenmenschliche Kommunikationspartner, versagen sie völlig. Sie treffen konsequent die falschen Entscheidungen und versauen sich damit ihr Leben, das sowieso einer Sisyphusaufgabe gleichkommt.


Bronson ist Refns sechster Spielfilm und auch er erzählt von einem gewalttätigen Loser. Der Brite Michael Peterson (Tom Hardy) überfällt 1974 mit einer abgesägten Schrotflinte einen Laden und raubt gerade einmal 26 Pfund. Er kommt in den Knast und attackiert so oft die Wärter, dass er noch heute dort sitzt. Auf der englischsprachigen Homepage des Films begrüßt uns ein Counter, der berichtet, wie lange Peterson nun schon für die paar Pfund, die er gestohlen hat, einsitzt. In Jahren, Monaten, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Es sind bald 35 Jahre. Neben seinem Ruf als „Britain’s most violent criminal“ ist der prominente Häftling vor allem unter seinem Künstlernamen „Charles Bronson“ bekannt, den er in einer kurzen Phase der Freiheit für einige illegale Faustkämpfe annahm und dann im Knast beibehielt.


Was treibt einen Mann dazu, sich selbst im Knast zu begraben – und das ist es, worauf „Bronson“ mit jeder neuen Gewaltaktionen abzuzielen scheint? Einen Grund dafür erfahren wir nicht wirklich. Stattdessen: Körperkino. Bronson/Peterson zieht sich aus, rennt gegen die Aufseher und die Wände an, besudelt sich mit Blut, quält einen schwulen Kunstpädagogen, terrorisiert einen verängstigten Wärter. Refn bietet keine Antworten an, nicht einmal einfache. Der Mann Bronson bleibt uns fremd und der Appell auf der Homepage, ihn endlich freizulassen, steht in einem seltsamen Gegensatz zum Film, nach dem man eher das Gefühl hat, der Mann solle uns, bitteschön, doch so lange wie möglich in der Welt draußen erspart bleiben. Wer will schon gerne morgen auf der Straße grundlos von einem glatzköpfigen Muskelpaket mit Retro-Schnauzbart zusammengeprügelt werden, nur damit der wieder zurück in den Knast kommt?



Refn nutzt mehr als in seinen Filmen zuvor distanzierende und verfremdende Effekte: Einige Szenen sind gänzlich in Rot oder Blau getaucht, manche werden in extremem Weitwinkel gezeigt oder nutzen lange Parallelfahrten. Auch die voice-over Bronsons ist keine objektive, ordnende Instanz, sondern oft selbstgefällig und rhetorisch. Immer wieder sehen wir den Protagonisten bleich geschminkt auf einer Bühne vor Publikum in Abendkleidung. Da steht er dann im Anzug, isoliert vor schwarzem Hintergrund, und hält ungelenk Zwiesprache mit sich selbst. Einmal projiziert Refn dazu dokumentarisches Filmmaterial einer von ihm angezettelten Gefängnisrebellion direkt auf den Schauspieler und den Hintergrund. Auch Hardys zwischen Unbewegtheit und Expressivität changierendes Spiel verweigert Nähe: immer wieder schaltet er sein Lächeln mechanisch an und aus, lässt seine Bewegungen einfrieren oder legt den Kopf ruckartig schief. Häufig zeigt Refn Bronson, wie er entweder im vollen Profil gefilmt aus dem Bildkader starrt oder bedrohlich frontal vor die Kamera tritt, um dann das Publikum direkt anzusprechen.


Ganz zu Anfang des Films verkündet „Bronson“ in die Kamera: „All my life I wanted to be famous.“ Identifiziert er sich deshalb so sehr mit dem Filmstar Charles Bronson? Über den „echten“ Bronson, den, der als Charles Buchinsky 1921 als Sohn litauischer Emigranten in Ehrenfeld, Pennsylvania geboren wurde, schrieb James Dickey, der Autor von Deliverance (Beim Sterben ist jeder der Erste), trotz seiner gewalttätigen Rollen und seines muskulösen Körperpanzers sei da „always about him a silent and reflective personality hidden somewhere within or beneath a body redolent of the workingman – the coal miner, the factory worker, or the truck driver [...] [;] a solid-hewn, aging, tough, essentially moral masculinity is Bronson’s trademark.” Der ikonische Schauspieler Bronson sei “a strong, no-nonsense man whose appeal […] does […] lie […] in his integrity and his great animal vitality.” Er ist aber auch in Filmen wie Death Wish (1974) “a kind of universal avenger – a one-man force against what he considers universal evil.” Wir erfahren nicht, gegen was Michael Petersons / Tom Hardys Interpretation dieses Racheengels auszieht, aber dass der Mann eine allumfassende Wut in sich trägt, steht außer Frage. Bronson ist vor allem eine filmische Metapher für Wut geworden – unbändige, rasende Wut. Und damit trotz aller Distanz ein sehr intensiver Film.


Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009



Sonntag, 9. August 2009

Men in Black: TROPA DE ELITE



Tropa de Elite (The Elite Squad) – BZ-NL-USA 2007 – Regie: José Padilha – Kamera: Lula Carvalho – Produktion: Marcos Prado, Jose Padilha – Koproduzenten: Eliana Soarez, James D’Arcy – Schnitt: Daniel Rezende – Drehbuch: Jose Padilha, Rodrigo Pimentel, Braulio Mantovani – Darsteller: Wagner Moura (Capitão Nascimento), André Ramiro (André Matias), Caio Junqueira (Neto), Maria Ribeiro, Fernanda Machado, Milhem Cortaz, Paulo Vilela u.a. – FSK: keine Jugendfreigabe – Fassung: O.m.d.U. – Länge: 115 min. – Start: 6.8.2009


Mit Tropa de Elite kommt nun der umstrittene Berlinale-Gewinner des letzen Jahres endlich regulär in die Kinos. Den Vorsitz der Jury hatte damals Costa-Gavras inne, ein Regisseur, der mit Z (ALG-F 1969) bereits Ende der 60er Jahre einen vergleichbaren Filmstil popularisierte. Padilhas Film thematisiert die BOPE, eine brasilianische Militärpolizeieliteeinheit, die regelmäßig in die Favela vorrückt, um Drogendealer zu eliminieren und die eigenen, oft korrupten Kollegen aus gefährlichen Situationen herauszuschießen – oder, je nach Laune, auch gleich mit abzuknallen. Padilha bevorzugt filmische Mittel, die einen dokumentarischen Gestus suggerieren und auf einen veristischen Effekt zielen. Oft schwenkt die Handkamera in Gesprächen zwischen den Protagonisten hin und her, ganz so, als ob hier nichts inszeniert sei. Noch öfter nimmt sie die Rolle eines teilnehmenden Beobachters ein: Auch der Kameramann duckt sich in Actionszenen weg, begleitet einem embedded journalist gleich shoot-outs ebenso wie die Trainingseinsätze im Großstadtslum. In einer Szene spritzen ein paar Tropfen Kunstblut auf die Linse, so dass kleine rosa Flecken für den Rest der Einstellung über den Bildern hängen bleiben. Das alles soll uns sagen: Wir sind dabei, unmittelbar, direkt, unverfälscht.


Das Sujet Favela hat sich in den letzten Jahren, insbesondere seit Cidade de Deus (City of God; BZ 2002), in dem Zweig des Kinos eine Nische geschaffen, der oft so anmaßend wie abschätzig „Weltkino“ genannt wird. Viele dieser meist als „links“ verstandenen Filme gehen in ihrer Konstruktion von „Realismus“ auf Pontecorvos oder Costa-Gavras’ politische Agitationsfilme aus den bewegten 60ern zurück, in Teilen auch auf den poetischen Realismus der Franzosen und den Neorealismo der Italiener. Dabei übt Pontecorvos Meisterwerk La Battaglia di Algeri (Die Schlacht um Algier; I-ALG 1966) in seiner geschickten Konstruktion von Verismus, Pathos und Historie wohl den stärksten Einfluss aus. Aber auch das US-amerikanische New Hollywood hat in diesen neuen „Ghetto-Filmen“ seine Spuren hinterlassen. Es waren insbesondere Scorsese und Altman, die sich ab den 1970er Jahren immer wieder abgeschlossenen Milieus zuwandten, diese mittels einer Ensemble-Cast als multiperspektivischen Mikrokosmos porträtierten. So wie Altman sich weniger für die Einzelschicksale als Nashville (USA 1975) selbst interessiert und Scorsese vor allem New York, Little Italy und die Mafia in der Neuen Welt erforscht, wobei er Las Vegas oder New York in Casino (USA 1995) und Gangs of New York (USA 2002) wie einen Organismus behandelt, so sind Filme wie Cidade de Deus und Tropa de Elite fasziniert von Stadtteilen, Institutionen, hermetisch abgeriegelten Milieus. Zumindest partiell folgen sie damit einer ethnografischen Ausrichtung als Teil der filmischen Narration. In Cidade de Deus war das Untersuchungsobjekt ganz unmittelbar die Favela und ihre Einwohner, bei Padilho ist es nun vor allem eine Eliteeinheit, gewissermaßen der Feind der Favela, die den eigentlichen Protagonisten für den in drei Akte strukturierten Film bildet.


Zu Beginn stellt uns die voice-over von Capitão Nascimento (Wagner Moura) die Hauptkonflikte vor: Korruption in der regulären Polizei; ein BOPE-Offizier, der seinen Nachfolger sucht (Nascimento selbst); zwei potentielle Kandidaten dafür; das soziale Umfeld inklusive der privaten Konflikte. Der zweite Teil schildert die militärische Ausbildung der Rekruten in einem Trainingscamp und erste Einsätze während der „Operation Papa“, der gewaltsamen „Säuberung“ des Slums für den angekündigten Papstbesuch. Im dritten, dem kürzesten Akt, folgen Scheitern und Bewährung von Kandidaten wie Vorgesetzten. Hier offenbart sich dann auch eine Schwäche des Konzepts, das gerade die erste Hälfte des Films so stark macht: Letztlich können wir nur wenig mit den Protagonisten anfangen, sie lassen uns kalt, und das nicht nur, weil sie zunehmend grausam handeln, sondern weil in erster Linie Interesse am Milieu und den offenen und verdeckten Machtstrukturen geweckt wurde (einer der Rekruten, der universitäre Weiterbildungskurse besucht, bereitet dort ein Paper zu Foucault vor – ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Rezensenten, wahlweise auch eine Hommage an die Buchvorlage, die eine Gruppe von Soziologen verfasst hat).


Mehrfach wurde dem Film eine faschistoide Haltung vorgeworfen. Tatsächlich betont Nascimento, der zentrale Charakter des Films, einmal, dass er nur die schwarze Uniform tragen wolle. Das Emblem der Einheit ist ein Totenkopf mit gekreuzten Pistolen und einem Dolch; die SS-Assoziationen sind offensichtlich. Auch das Handeln: Die immer wieder ausführlich gezeigte Folter mit der Plastiktüte über dem Kopf, das Prügeln, die Erst-Schießen-dann-Fragen-Mentalität. Einmal lässt einer der Polizisten beim Foltern dem Opfer die Hosen runterziehen, greift sich einen Besenstil und spuckt auf die Spitze. Gnädigerweise lässt Padilha das Opfer gestehen, so dass er uns nicht auch noch die Vergewaltigung zeigt. Auch die Ausbildung hat vor allem das Ziel, Killer zu schaffen. Ganz am Ende des Films ist der intellektuellere der beiden jungen Anwärter zum Teil der Todesschwadron mutiert. Als er sich anschickt, einem wimmernden Dealer, der wenigstens für seine Familie um ein versehrtes Gesicht bettelt, mit der Schrotflinte eben dieses wegzuschießen, erklärt die Stimme aus dem Off befriedigt, nun sei auch er endlich ein echter BOPE-Mann.


Ist es faschistisch, das zu zeigen? Oder zeigt der Film vor allem den Faschismus seiner Figuren? – Eine alte Frage, deren Beantwortung oft mehr über die Haltung des Rezensenten verrät als über den Film. Fakt ist, dass die Wertung hier, so sie denn existiert, sehr zurückgenommen ist; die Foucault- und Milgram-Verweise am Anfang hin oder her. Die Rahmenhandlung mit dem Papst-Besuch ist vielleicht die eindeutigste Positionierung des Films: Da kommt das Oberhaupt der katholischen Kirche zu Besuch und setzt sich ausgerechnet in den Kopf, im Elendsquartier abzusteigen. Allein für diese Arroganz der Macht müssen Hunderte sterben. Was die Zeichnung der BOPE angeht, so würde ich aber darauf wetten, dass für jeden kritischen Artikel über den Film oder über die real existierende BOPE mindestens ein junger brasilianischer Polizist in eine solche Eliteeinheit eintreten wollte. Dass der Film letztlich offen für jede Lesart bleibt, ist aber zumindest besser, als die Zuschauer permanent zu bevormunden. Ein etwas schaler Geschmack bleibt dennoch zurück. Vielleicht rührt der aber auch daher, dass man früher oder später bemerkt, wie sehr man der martialischen Inszenierung soldatischer Männlichkeit wider Erwarten auf den Leim geht.



Freitag, 31. Juli 2009

Artikel: 40 Jahre „Spiel mir das Lied vom Tod“ im aktuellen "film-dienst"



Ein wenig schamlose Eigenwerbung:

In der aktuellen Ausgabe des "film-dienst" (30. Juli 2009) ist ein Artikel von mir zum 40. Jahrestag der deutschen Erstaufführung von Sergio Leones Magnum opus C’era una volta il West (1968) erschienen.
Leones Western wurde am 14. August 1969 in Westdeutschland unter dem Titel "Spiel mir das Lied vom Tod" in die Kinos gebracht und bald zu einem der erfolgreichsten Filme der 1960er Jahre (in der DDR wurde er erst mehr als zehn Jahre später, im Juli 1981, erstaufgeführt).
Der Artikel findet sich in der Print-Ausgabe auf den Seiten 46-47, kann aber auch – vermutlich zeitlich begrenzt (?) – auf der Homepage des "film-dienst" gelesen werden: Link

Es empfiehlt sich natürlich grundsätzlich der Erwerb der – ansprechend layouteten – Printausgabe, die neben aktuellen Film-, DVD- und Buchkritiken u.a. einen Essay von Ulrich Kriest zu Männlichkeit im Gegenwartsfilm, ein interessantes Kurzinterview mit José Padilha zu dem nun auch bei uns regulär angelaufenen Tropa de Elite (2007) sowie einen Bericht vom Filmfest München enthält.

Sonntag, 5. Juli 2009

Ein kurzer Rückblick auf die NECS-Konferenz "Locating Media" in Lund, 24.-28. Juni 2009


Die diesjährige Konferenz des NECS, des European Network for Cinema and Media Studies, ist seit einer Woche vorbei, einen kurzen Rückblick wollte ich dennoch online stellen, bevor der Alltagstrott mich wieder fest in seinen Klauen hält.

Die viertägige Konferenz war die bislang größte der von dem noch jungen Wissenschaftsnetzwerk ausgerichteten Zusammenkünfte und fand an der südschwedischen Universität von Lund statt. Das übergeordnete Konferenzthema war verhältnismäßig offen gehalten: „Locating Media“, die Lokalisierung von Medien im weitesten Sinne also; im Idealfall – aber nicht immer – mit Europabezug. Der Vorgabe folgend, bot der mit 57 Panels prall gefüllte Konferenzplan einen guten, manchmal vielleicht etwas willkürlich anmutenden Überblick der gegenwärtigen Forschung zum europäischen Kino, Fernsehen und Medien und konnte so eine enorme Bandbreite abdecken (Programm). Viele Vorträge behandelten dabei regionale, lokale oder nationale/transnationale, transeuropäische und/oder transatlantische (oder gar „glokale“) Praxen der Aneignung, Adaption und Transformation medienspezifischer Phänomene. Darunter waren Vorträge zur Lokalisierung von Genres, Ästhetiken und Produktionsweise, beispielsweise zu gegenwärtigen Filmvermarktungsstrategien (etwa Blockbuster-Film und „virales“ Internet-Marketing) sowie Papers zu Blogs, Sounddesign und Filmhochschulen. Es gab zusätzlich drei Keynote-Vorträge: Ginette Vincendeau vom Londoner King's College referierte über trans/nationale Charakteristika des französischen Kinos, Duncan Petrie von der University of York stellte die Geschichte und Bedeutung von Filmschulen in Europa vor und Janet Staiger präsentierte einen neuen Ansatz zur Filmgeschichtsschreibung, der insbesondere durch dem Einbezug von Aspekten der Filmpraxis der Forschung neue Impulse geben soll. Insbesondere Staigers dichter Vortrag war ein Höhepunkt der Konferenz; eine eindrucksvolle, anschauliche und kompakte Passage durch die filmstilistischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Gerne hätte man der seit über 30 Jahren publizierenden Filmwissenschaftlerin noch einige Stunden zugehört.


Dass bei den über 240 (!) Einzelvorträgen, die in den Panels untergebracht waren, nicht jeder Vortrag das meist hohe Niveau halten konnte, steht außer Frage. Aber das Gesamtbild, das sich in dem Vortragsmarathon und den anschließenden Diskussionen ergab, war mit wenigen Ausnahmen anregend, erhellend, informativ, mitunter auch fordernd. Ich will hier nicht einzelne Vorträge oder Panels hervorheben oder kritisieren. Das wäre letztlich nur willkürlich, da man bei bis zu sechs jeweils parallel laufenden Panels mit jeweils bis zu sechs Einzelvorträgen sowieso von vornherein nur einen Bruchteil des Angebots wahrnehmen konnte. Interessant war jedenfalls mitzubekommen, wer als Theoretiker gerade en vogue ist: So wurde in erstaunlich vielen Vorträgen auf den Filmwissenschaftler Tom Gunning, den Philosophen Giorgio Agamben oder den Film- und Musikwissenschaftler Michel Chion rekurriert.

Ich selbst nahm zusammen mit Alex Zahlten an dem Panel „Genre: A Transnational View“, am Samstag, den 27. Juni, mit einem Vortrag zum europäischen Western der 1960er Jahre teil. Das von Ann-Kristin Wallengren von der Universität Lund kompetent geleitete Panel wurde eröffnet von K. J. Donnellys Vortrag zu den Klangwelten in Jack Claytons Horrorklassiker The Innocents (Schloss des Schreckens; 1961). Die folgenden drei Vorträge griffen fast unmittelbar ineinander: Zunächst referierte Paolo Noto von der Universität Bologna über die heute fast vergessenen italienische Banditen-Filme der Jahre 1948-54, die er sehr überzeugend als eine „Lokalisierung des Westerngenres“ las; die Frühgeschichte des europäischen Western und die 60er Jahre zwischen Karl-May-Verfilmungen und Western all’italiana waren mein Thema; und abschließend referierte Alex Zahlten über asiatisch-europäische Koproduktionen der 1960/70er, wobei auch hier Western-Hybride im Zentrum standen.


Die noch junge Plattform NECS und ihre Konferenz ist eine für film- und medienwissenschaftlich interessierte Kulturwissenschaftler äußerst empfehlenswerte Initiative: zum Netzwerken, um den eigenen Horizont zu erweitern, das eigene Wissen zu vertiefen. Besonders die Tatsache, dass das rasch wachsende Netzwerk sich als „Grass-roots“-Organisation versteht und neben bereits etablierten Wissenschaftlern vor allem Doktoranden, jungen Post-Docs und unabhängigen Forscher/innen ein Forum bietet, trägt zu einer entspannten, offenen und kommunikativen Stimmung bei. Es gibt nur sehr wenige wissenschaftliche Kongresse, die so wenig von Standesdünkel bestimmt sind und einen so regen Austausch ermöglichen. Auch aus diesen Gründen kann man im Rückblick unumwunden sagen: Die Lund-Konferenz war ein voller Erfolg. Die nächste NECS-Konferenz wird im Juni 2010 in Istanbul stattfinden. Wenn sie den durch die Organisatoren und die Universität Lund gesetzten hohen Standard halten wird, ist sie jetzt schon einer der filmwissenschaftlichen Höhepunkte des nächsten Jahres.



Freitag, 5. Juni 2009

Eine Kugel für den Führer: Fritz Langs MANHUNT


Manhunt (Menschenjagd) – USA 1941 – Regie: Fritz Lang – Drehbuch: Dudley Nichols nach dem Roman Rouge Male von Geoffrey Household – Produzent: Kenneth Macgowan – Kamera: Arthur C. Miller – Schnitt: Allen McNeil – Musik: Alfred Newman – Darsteller: Walter Pidgeon (Captain Alan Thorndike), Joan Bennett (Jerry Stokes), George Sanders, John Carradine, Roddy McDowall, Ludwig Stössel, Carl Ekberg (A. Hitler in einigen Einstellungen; ergänzt um dokumentarisches Archivmaterial) u.a. – Format: Academy-Normalformat, 35 mm – Länge: 102 min. – Verleih (USA): Twentieth Century-Fox, ab 13.6.1941.
Der Anfang ist brillant, zudem unerreicht dreist: Ein Mann mit geschultertem Gewehr schleicht durch einen Wald, der ein wenig an den Studiowald aus Schoedsacks und Pichels The Most Dangerous Game (1932) erinnert (der im Übrigen 1933 in King Kong recycelt wurde). Insbesondere die Assoziation zu dem 1932er-Klassiker bietet sich an, jagt doch dort ein irrer russischer Aristokrat zur Unterhaltung auf seiner tropischen Privatinsel Menschen, spielt eben jenes most dangerous game, das bald in den Dialogen von Langs Film thematisiert werden wird. Doch noch befinden wir uns in diesem dichten, rankenden Wald, von dem wir nicht wissen, wo er sich überhaupt befindet – auf einer Tropeninsel auf jeden Fall nicht. Der Mann jedenfalls pirscht sich weiter vor, entdeckt dann scheinbar eine Beute, die es wert ist, ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Vorsichtig bettet er sich in das Laub, blickt durch das Zielfernrohr – und im Fadenkreuz erblicken wir mit ihm Adolf Hitler.

Sonntag, 10. Mai 2009

SHINING in der Populärkultur

Popkultur lebt von der Verzweigung, der Rhizomisierung, der Verästelung; davon, dass Bekanntes in Einzelteile zerschlagen und zu Neuem zusammengesetzt wird. Oder wie Georg Seeßlen einmal so schön feststellte: "Der Mythos ist eben eine Art von Wissen, das von sich selber nichts weiß, und populäre Mythologie ist ein System von Mythen, in dem es ziemlich aussichtslos ist, nachzuweisen, wer wann etwas wovon gewusst haben soll. Und natürlich: wer wem was geklaut hat." (Seeßlen: Die Matrix entschlüsselt; 2003; S. 9). Im Idealfall bleibt aber für den kenntnisreichen Konsumenten auch im Zitat noch die Referenz auf das Original erhalten. Bei einzelnen, besonders exponierten Stücken Popkultur wird dies beim Zitieren gar zum wesentlichen Teil des Vergnügens der Rezipienten erhoben und ist von vorneherein einkalkuliert. Stanley Kubricks The Shining (Shining; 1980) ist ein gutes Beispiel hierfür (ähnlich wie 2001 – A Space Odyssee [1968] vom gleichen Regisseur, die Eröffnungssequenz des ersten Godfather-Films [Der Pate; 1972] oder von C’era una volta il West [Spiel mir das Lied vom Tod;1968], ganz grundsätzlich auch Leones Duell-Inszenierung und so ziemlich alles aus Casablanca [1942], Star Trek [1966ff.] und Star Wars [Krieg der Sterne; 1977ff.]).


Stellvertretend hierfür – und von vornherein ebenso kursorisch wie größtenteils aufs Audiovisuelle beschränkt – im Folgenden einige der originellsten Beispiele für den populären Zugriff auf Kubricks Verfilmung des Durchbruchsromans von Stephen King – selbst auf der vermeintlich ersten Ebene – dem Roman – ein Stück Popkultur per definitionem, denn schon das Buch wurde freilich von King zusammengestückelt aus Versatzstücken des Horrorfilms und der Schauerromantik.



Als erstes Beispiel wäre da etwa das Buch zum Buch im Film, welcher selbst schon die Verfilmung eines Romans ist, der davon erzählt, wie ein Schriftsteller sich ansetzt, ein Buch zu schreiben (und dabei nicht nur scheitert, sondern gleich verrückt wird): Schon länger bei dem Platzhirsch für Online-Buchbestellungen zu erhalten, gibt es dies nun auch professionell aufbereitet: Jack Torrances Roman Was Du heute kannst besorgen ... (nun inkl. Audiobook!). Alle, die den Film bzw. seine deutsche Synchronfassung noch in Erinnerung haben, werden wissen, dass der Roman nur aus einem endlos wiederholten Satz besteht, eben: "Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf Morgen."
Stärker dem Haptischen zugeneigten Zeitgenossen wäre alternativ auch der „Torrance-Raum“ der
Hamburger Kunsthalle zu empfehlen.

Amüsantes findet sich auch bei dem Video-Flohmarkt Youtube, der virtuellen Rumpelkammer der Popkultur. Da wäre zunächst einmal der Original-Trailer des Films:




Zusätzlich findet sich hier jedoch auch eine modifizierte Variante, die geradezu kongenial und dabei ungemein effektiv die Macht des Tons beim Film verdeutlicht. Clint Eastwood sagte einmal, Film sei zu 40 Prozent Sound. Manchmal aber ist es auch ein ganz anderer Film, der sich so fabriziert lässt:



Dann könnte man auch noch den unvermeidlichen mit LEGO nachgestellten Trailer ansehen:



Natürlich findet sich hier auch der ebenso obligatorische Auftritt bei den Simpsons:




Eine meiner Lieblingsvarianten stammt schließlich von der Animationskünstlerin Jennifer Shiman, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, bekannte Filme in 30 Sekunden mit animierten Häschen nachzuerzählen. Hier der direkte Link auf die Seite der Künstlerin (mehr Kürzestfilme finden sich auf Angry Alien Productions). Die Youtube-Variante ist leider seit Anfang April aufgrund einer GEMA-Abmahnwelle nicht mehr so ohne weiteres von Deutschland aus aufrufbar (was ärgerlich und kontraproduktiv ist). Unbedingt ansehen!