Sergio Leone - Ein europäischer Träumer
Nach längerer Abstinenz von meinem Blog – Schande über mein Haupt! – hier anlässlich des Erscheinens der erweiterten und aktualisierten Neuauflage meines Leone-Buches im renommierten Bertz+Fischer-Verlag, dort publiziert November 2012, ein bereits in Andreas Thomas' Filmgazette veröffentlichter Essay über Leones "Kino über das Kino". In den nächsten Tagen lade ich dann weitere (auch aktuelle) Texte hoch. Versprochen.
Nach längerer Abstinenz von meinem Blog – Schande über mein Haupt! – hier anlässlich des Erscheinens der erweiterten und aktualisierten Neuauflage meines Leone-Buches im renommierten Bertz+Fischer-Verlag, dort publiziert November 2012, ein bereits in Andreas Thomas' Filmgazette veröffentlichter Essay über Leones "Kino über das Kino". In den nächsten Tagen lade ich dann weitere (auch aktuelle) Texte hoch. Versprochen.
Amerika als mythischer
Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und
Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu
unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat gegen
atemberaubende Weitwinkeltotalen geschnitten; ein enger Bund der Musik an die
Montage; Ironisierungen, Brüche und Stilisierungen. Unfraglich war der
italienische Regisseur Sergio Leone (1929 – 1989) ein Filmemacher mit einer
distinktiven Handschrift; ein auteur.
Zugleich war er aber auch der Schöpfer einiger der größten kommerziellen
Erfolge des europäischen Kinos.
Bereits sein erster Western "Für eine Handvoll Dollar" (1964) avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und begründete ein ganzes Subgenre, den Italowestern. Mit seiner "Dollar"-Trilogie etablierte er Clint Eastwood als Star. Mit "Spiel mir das Lied vom Tod" (1968) gestaltete er den "ersten postmodernen Western" (Bernardo Bertolucci). Sein Spätwerk "Es war einmal in Amerika" (1984), ein ausufernder Gangsterfilm von epischen vier Stunden Länge, wurde gar zur definitiven Hommage an das klassische Hollywoodkino. Während seine ersten Filme insbesondere von der deutschen und amerikanischen Filmpublizistik als Apotheosen der Gewalt aufgefasst wurden – die Cahiers du Cinéma dagegen fanden von Anfang auch Lob –, gelten "Spiel mir das Lied vom Tod" und "Es war einmal in Amerika" inzwischen als Meisterwerke des Genrekinos. Eine Vielzahl von gegenwärtigen Hollywoodregisseuren bezieht sich zudem auf Leones Œuvre; von den Coens bis zu Tarantino, den Hughes Brothers, John Woo und Robert Rodriguez.
Bereits sein erster Western "Für eine Handvoll Dollar" (1964) avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und begründete ein ganzes Subgenre, den Italowestern. Mit seiner "Dollar"-Trilogie etablierte er Clint Eastwood als Star. Mit "Spiel mir das Lied vom Tod" (1968) gestaltete er den "ersten postmodernen Western" (Bernardo Bertolucci). Sein Spätwerk "Es war einmal in Amerika" (1984), ein ausufernder Gangsterfilm von epischen vier Stunden Länge, wurde gar zur definitiven Hommage an das klassische Hollywoodkino. Während seine ersten Filme insbesondere von der deutschen und amerikanischen Filmpublizistik als Apotheosen der Gewalt aufgefasst wurden – die Cahiers du Cinéma dagegen fanden von Anfang auch Lob –, gelten "Spiel mir das Lied vom Tod" und "Es war einmal in Amerika" inzwischen als Meisterwerke des Genrekinos. Eine Vielzahl von gegenwärtigen Hollywoodregisseuren bezieht sich zudem auf Leones Œuvre; von den Coens bis zu Tarantino, den Hughes Brothers, John Woo und Robert Rodriguez.
Sergio Leone wurde am 3. Januar
1929 im römischen Viertel Trastevere geboren. Die
pessimistische Note seiner Filme hat er oft auf diese Herkunft zurückgeführt: "Ein
Römer zu sein, das bedeutet anders zu sein … fatalistisch zu sein. Hinter uns liegen
ein verfallenes Weltreich und das Wissen um all die Dummheiten, denen wir uns
über die Jahrhunderte schuldig gemacht haben. Mehr noch: Die historischen
Zeugnisse unseres Reichs sind quer über die ganze Stadt verstreut, als
dauerhafter Beweis unserer Fehler." Tatsächlich erlebte der junge Leone in
der "ewigen Stadt" ganz unmittelbar die Fortsetzung dieser
katastrophischen Geschichte in die Gegenwart: das Ende des italienischen
Faschismus, die Besetzung durch die Deutschen in den letzten Kriegsjahren,
schließlich die Befreiung durch die Amerikaner. Kulturell war es das
Hollywood-Kino, das im Faschismus nur zwangssynchronisiert in die italienischen
Kinos kam, aber zumindest bis 1939 noch gezeigt wurde, das einen nachhaltigen Einfluss
auf Leone ausübte: "Unsere Welt war wahrhaftig die Straße und das Kino.
Vornehmlich die Filme, die aus Hollywood kamen! Niemals die französischen
Produktionen oder die italienischen 'telefoni bianchi'", so der Regisseur später.
Diese Faszination für die US-Populärkultur prägte sein gesamtes Werk.
Leones Weg in die italienische
Filmindustrie war gewissermaßen vorherbestimmt: Der Vater Vincenzo Leone war
einer der italienischen Filmpioniere, die Mutter Edvige Valcarenghi eine unter
ihrem Künstlernamen Bice Walerian bekannte Stummfilmdiva. Ab 1939 nahm Vincenzo,
der unter dem Pseudonym Roberto Roberti seit Anfang der 1910er Jahre Regie
führte, seinen Sohn mit zu den sound
stages der römischen Filmstadt Cinecittà. In seinem letzten Film, "Il
folle di marechiaro" (1952, gedreht 1944 und 1949), hatte der junge Leone
einen ersten Kurzauftritt als amerikanischer GI und arbeitete als unbezahlter
Regieassistent. Auch in Vittorio De Sicas neorealistischem "Fahrraddiebe"
(1948) wirkte der damals 19-jährige als unbezahlter Regieassistent mit und trat
abermals in einer kleinen Statistenrolle auf. Das Jurastudium gab er bald auf
und begann, wie sein Vater zuvor, sich im italienischen Genre-Kino zu
verdingen. Bis zu seinem offiziellen Regiedebüt "Der Koloss von Rhodos"
(1961) arbeitete er knapp 15 Jahre im italienischen Studiosystem; als Statist
und Drehbuchautor, vor allem aber als Regieassistent von mindestens 30 Genrefilmen,
darunter viele der damals populären "Sandalenfilme". Zudem wirkte er in
der Second Unit von fünf US-Produktionen
mit, die in Cinecittà gedreht wurden, an Mervyn LeRoys "Quo Vadis"
(1951) zum Beispiel, der ersten der ins "Hollywood am Tiber" ausgelagerten
Runaway-Produktionen, die im antiken Rom angesiedelt waren, später auch an
William Wylers Kolossalfilm "Ben-Hur" (1959). Aufgrund einer
Erkrankung des damals fast 70-jährigen Mario Bonnard, stellte Leone dessen
Regiearbeit "Die letzten Tage von Pompeji" (1959) alleine fertig. Die
achte italienische Version von Bulwer-Lyttons Roman wurde so zu seinem
inoffiziellen Regiedebüt. Auch "Der Koloss von Rhodos" (1961), mit
dem ihm erstmalig der Credit als
Regisseur zugestanden wurde, war ein weiteres dieser farbenfrohen
Breitwandspektakel, die die Franzosen auf den Namen Peplum getauft hatten. Es waren dann auch
die französischen Kritiker, welche die hier zumindest im Ansatz schon vorhandenen
Qualitäten des Regisseurs erkannten. Der junge Bertrand Tavernier zeigte sich in
der Cinéma von Leones "äußerst graziösem Werk" und seinem Umgang
mit der Ausstattung begeistert, die Cahiers
du Cinéma wagten in Bezug auf die mise-en-scène gar den Vergleich mit
DeMilles Monumentalfilmen.
"Der Koloss von Rhodos"
hätte der Beginn von Leones Karriere im zu dieser Zeit boomenden Peplum sein können. Doch der junge
Regisseur hielt sich zunächst drei Jahre zurück, in denen er unter anderem dem
Hollywood-Maverick Robert Aldrich im
zweiten Team von "Sodom und Gomorrha" (1962) für ein paar Wochen assistierte,
um dann ein reichlich obskures Projekt zu beginnen: die Dreharbeiten für einen
italienisch-europäischen Western in der südspanischen Landschaft um Almería,
mit einem relativ unbekannten US-amerikanischen Fernsehdarsteller in der
Hauptrolle besetzt und an Akira Kurosawas "Yojimbo" (1961) angelehnt.
Trotz des Erfolgs der deutschen
Karl-May-Verfilmungen galt der Western – als
literarische Gattung ebenso wie als Filmgenre – zu dieser Zeit noch als originär amerikanisches Sujet; "so amerikanisch
wie Apfelkuchen", wie es Jim Kitses ironisch formuliert, oder in den
Worten André Bazins: als das amerikanische Genre par excellence. Mit "Für eine Handvoll Dollar" sollte
sich dies zumindest für ein Jahrzehnt grundlegend ändern. Auch wenn die Handlung
in weiten Zügen von Kurosawa übernommen war, so lag die besondere Wirkung dieser
europäischen Koproduktion doch gerade darin, dass der Stoff in ein
Westernsetting übertragen worden war. In Bezug auf den klassischen Western
definiert sich Leones Film "vorwiegend durch die Negation, ist eher Skizze
als Fleisch, eher Idee als Anschauung" (Brigitte Desalm). Wenn uns Luigi
Lardanis animierte Vorspannsequenz nach einer flirrenden Sonnenhalluzination
vor rotem Hintergrund in eine südspanische Wüste entlässt, dann befinden wir
uns in einer ausgedörrten und feindlichen Umgebung, einer Art Vorhölle, die
nichts mit den Tälern, Bergen und der Weite des amerikanischen Westens gemein
hat. Wenn die US-Western als Thema oft die Nutzbarmachung des Landes
behandelten, die Verwandlung der Wüste in einen Garten, so ist bei Leone das
Land wieder zur Wüste geworden und wird es auch in den Folgefilmen bleiben –
ein Anti-Eden, eine terra damnata. In
der gesamten "Dollar"-Trilogie, die Leone mit den beiden
Fortsetzungen "Für ein paar Dollar mehr" (1965) und "Zwei
glorreiche Halunken" (1966) schuf, gibt es keine Versuche, den Boden zu
bearbeiten, wir sehen nie auch nur einen einzigen Cowboy, eine Rinderherde oder
eine Weidelandschaft. Auch Indianer, im Western sonst Signifikant der Wildnis,
sind in Leones erster Trilogie vollständig abwesend. Jim
Kitses, der Autorenkritiker des Genres, hat hieran eine prägnante Beobachtung
zum Wandel des Western in der europäischen
Anverwandlung gemacht: Dieser "Westen ohne Fortschritt" sei ein
Ergebnis der Internalisierung der
Grenze; in Leones Filmen habe die Wildnis und die Rohheit des Landes auf die
Gesellschaft selbst übergegriffen. Wenn diese Filme aber in einem
metaphorischen Grenzgebiet spielen, so ist dieses doch immer auch ein explizit italienisches, nämlich das des Übergangs
zum Mezzogiorno, diesem "postkolonialen
Raum" innerhalb der Nation Italien, der wie eine innere Grenze Italien
trennt. Durch ihr düsteres Bild einer gescheiterten Moderne reflektierten diese
Western die ethischen Erschütterungen, die die Modernisierung Italiens in der
Nachkriegszeit mit sich brachte. Ihr Erfolg galt italienischen
Filmwissenschaftlern wie Lino Micciché als Ausdruck des grassierenden Zynismus
der italienischen Gesellschaft und des Verfalls tradierter Werte und Normen hin
zu den neuen, einzigen anerkannten "Werten": Geld und Macht.
Die stärkste der Verkehrungen,
die Leone im Hinblick auf den klassischen Western vornahm, lag freilich in dem von
Clint Eastwood verkörperten Protagonisten begründet: Statt des positiven
Westernhelden, der Ritterfigur Amerikas, trat mit Eastwoods namenlosem
Revolvermann eine gewissenlose Söldnerfigur an. Nun war, wie Pauline Kael
bemerkte, nicht mehr der Held zum Glück auch der beste Schütze, sondern der beste Schütze wurde zum Helden. Im
Gegensatz zum klassischen Westerner, etwa Alan Ladd in George Stevens’ "Shane"
(1953), verteidigte der Eastwood-Protagonist keine idyllische Frontier-Gesellschaft mehr; er hatte sich
vielmehr mit der bösen Welt arrangiert. Einzig in den ritualisierten Duellen
folgte die Figur noch einer Art ehrenhaftem Code.
Die besondere Bedeutung von
Leones Filmen für das Genre gründete auch in ihrer aggressiven und
experimentellen Inszenierungsweise, insbesondere den formelhaften Spielereien
und selbstreferenziellen Brüchen. Der spätere Regisseur Dario Argento, der Mitte
der 60er Jahre als Journalist für die Tageszeitung Paese Sera arbeitete, beschrieb die Wirkung von "Für eine
Handvoll Dollar": "Wir waren überrascht, denn dies war ein Western,
wie wir uns ihn erträumt hatten – der historische Western war nicht so
innovativ, nicht so verrückt, nicht so stilisiert, nicht so gewalttätig." So
fängt Massimo Dallamanos Kamera im extravaganten Showdown dieses Films im Staub
liegend die Stiefel der Protagonisten ein, die sich in den Breitwandbildkader
schieben und ihn in der ganzen Breite ausfüllen. Weitwinkelaufnahmen, die Figuren
in die Tiefe des Bildraums staffeln, kontrastieren mit Teleaufnahmen, die auf
der Klimax der Duelle so nahe an die maskenhaften Gesichter gesetzt sind, dass sie
mehr Detaileinstellungen als Großaufnahme bilden. Die einzelnen auf einander
folgenden Einstellungen von Gesichtern und Details vermitteln hier keine neue
Information mehr, sind eher Abfolgen von filmischen Tautologien. Im "Triell",
das den Höhepunkt von "Zwei glorreiche Halunken" bildet, präsentiert
uns Leone fast drei Minuten lang immer schneller hintereinander geschnittene
Serien von jeweils drei Detaileinstellungen: Zuerst drei Gesichter, dann die
drei Revolvergurte der Gegner, drei Augenpartien, dann drei Hände nahe den
Revolvern, wieder drei Augenpartien und abermals Hände. Das waren Innovationen,
die in vergleichbarer Weise höchstens am Rand des Genres in den Vereinigten
Staaten zu sehen waren, etwa bei Robert Aldrich und Samuel Fuller, in Filmen
wie "Vera Cruz" (1954) und "Vierzig Gewehre" (1957).
Die 14-minütige Exposition von "Spiel
mir das Lied vom Tod" aber, das war ein absolutes Novum. Gemessen an ihrem
minimalen narrativen Gehalt ist bereits die Länge der Sequenz ausufernd: An
einem gottverlassenen Viehbahnhof kommen drei Männer an, terrorisieren wortlos
den Bahnhofsvorsteher und seine Frau und warten auf den Zug. Nach dessen
Ankunft tritt ihnen ein mysteriöser Fremder entgegen, der die Männer erschießt.
Nicht mehr, nicht weniger. Aber wie das inszeniert wird: Mit einem von Ennio
Morricone orchestrierten Geräuschraum, der als Musique concrète den Auftritt von Jack Elam, Woody Strode und Al
Mulock begleitet. Wie wir alle Zeit der Welt haben, diesen Männern beim Warten
zuzusehen, wie sich Elam mit einer lästigen Schmeißfliege duelliert, Mulock
seine Knöchel knacken lässt und damit zur Geräuschmusik beiträgt, oder wie Strode
unbewegt dasteht, einer Ikone des Stoizismus gleich, während auf seinen fast
kahlgeschorenen Schädel rhythmisch die Wassertropfen eines lecken Tanks
schlagen. Der Holzboden unter den Männern, ein Flickwerk endloser Bretterlinien
aus verzogenen Bohlen und Planken, bildet in den streng komponierten bodennahen
Weitwinkelbilder ein Muster, das an einen ausgedörrten Salzsee erinnert –
zugleich roh und poetisch, von einer atemberaubenden Schönheit, die die
Hässlichkeit der Figuren, die Armseligkeit des Stationshauses und die Banalität
des Wartens transzendiert. Und dann der Auftritt von Charles Bronson als "Mann
mit der Mundharmonika": Mit einem Crescendo der Geräuschmusik fährt die
Eisenbahn ein, überfährt wie in Fords "Das eiserne Pferd" (1924) die
Kamera und Leones Regie-Credit fällt von
rechts oben ins Bild, wie eine Schranke, die den gerade einfahrenden Zug stoppt.
Als dieser dann wieder abfährt, steht Bronson plötzlich da: wie eine Statue,
die gerade vom Zug abgeladen wurde oder als ob der Zug nur ein hunderte Tonnen
schwerer Vorhang war, der für seinen Auftritt zur Seite gezogen wurde. Wenn Leone
zuvor die Zeit dehnt, indem er uns mit scheinbar endlosen Bildern von Männern
konfrontiert, die träge in der Hitze vor sich hin starren, und sie zugleich
durch die Montage rafft, die zwei Stunden tote Zeit in zehn Minuten Film komprimiert,
dann parodiert er natürlich auch Zinnemanns "Zwölf Uhr Mittags"
(1952). Leones Filme waren immer das, was Lino
Micciché als ein "Kino über das Kino" bezeichnet hat oder Sylvie Pierre als "ein dreister
kinematografischer Narzissmus" galt; ein ästhetisches und inhaltliches Vorausgreifen
der filmischen Postmoderne und ihrer Oberflächenreize, ein Zitieren durch die
Filmgeschichte.
Grundlegend für Leones Filme ist die
Tendenz zur Überhöhung, zur überladenen Ausstattung, zum exzessiven Einrichten
von tableaux vivants. Das zentrale
Erinnerungsbild im Flashback von "Spiel mir das Lied vom Tod" ist mit
seiner gemäldehaften Symmetrie wohl das beste
Beispiel. Der Lynchmord im Zentrum des Bildes ist gleich dreifach gerahmt: Von
den Tafelfelsen und der Weite des Monument Valley, in dessen Tiefe eine
Windhose tobt, von einem frei inmitten der kargen Landschaft stehenden
Steinbogen und schließlich vom Mörder und seinen Komplizen, die vor und um
Bronsons jüngere Inkarnation und seinen Bruder wie Renaissance-Engel lagern. Dieses
singuläre, in seiner Hyperrealität atemberaubende Panoramabild, eingefangen in
einer irrealen Aufsicht, ist eine der außergewöhnlichsten und
erinnerungswürdigsten Einstellungen der Filmgeschichte, die beim ersten Sehen
auf einer großen Leinwand als nachhaltiger Schock wirkt: In ihrer Traumlogik
nie vollständig greifbar.
Auch Leones Post-Western "Todesmelodie"
(1971) lässt sich insbesondere als Abfolge großer Momente und überlebensgroßer
Tableaus lesen, eine Tendenz, die in "Es war einmal in Amerika" zu
einem Abschluss kommt. Leone verwebt hier drei Zeitebenen durch Matchcuts und
Soundcuts, inszeniert einen Tanz zwischen den
Dekaden, doch verbleibt der Film gänzlich in
einer hermetisch abgeschlossenen, labyrinthischen Welt. Der Titel verspricht ein
Es war einmal, doch die Erzählung hat
noch nicht einmal diesen vagen Ausgangspunkt: Ob wir den Erinnerung eines
alten Gangsters (Robert De Niro) folgen, der sich an den Orten seiner Kindheit
und Jugend auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit befindet, oder wir nur dem Opiumtraum dieses Mannes folgen, alles
also eine drogengeschwängerte Fantasie ist, das bleibt letztlich unklar. Am
Ende des Films betritt De Niros junger Gangster noch einmal das Opiumhaus, in
dem wir ihm am Anfang begegnet sind. Die Kreisbewegung des Films kommt zu einem
Abschluss. In Aufsicht zoomt die Kamera durch die Gaze eines Baldachins in eine
Großaufnahme De Niros, der direkt in die Kamera blickt. Langsam erfüllt ein
breites Grinsen sein Gesicht, das Bild friert ein und die Schlusstitel erscheinen.
Mit dieser letzten Einstellung stellt Leone alles in Frage, was wir zuvor
gesehen haben: De Niros schwer bestimmbares Grinsen könnte genauso gut boshaft
sein und mit dem direkten Blick in die Kamera die Zuschauer verspotten, die
seinen – und Leones – Lügen gefolgt sind. Hat uns da einer ein Märchen erzählt
– Once Upon a Time in an Opium Den? Dabei ist das Opiumhaus auch eine
Metapher für das Kino selbst ebenso wie für Leones Faszination gegenüber dem amerikanischen
Kino: Wenn der ganze Film einen Opiumtraum illustriert, so nimmt der Träumer zugleich
die Bilder und Erzählungen der Hollywood-Gangsterfilme in seine Erinnerung auf,
von Griffiths "The Musketeers of Pig Alley" (1912) bis zu Coppolas "Der
Pate – Teil II" (1974). In diesem Opiumhaus
außerhalb der Zeit spielt zudem ein indonesisches Schattentheater das Ramayana,
einen Welterschaffungsmythos, in dem die Figuren Rama und Ravana als
Repräsentationen von Gut und Böse sich in einem ewigen Kampf befinden. Das ist das Rohmaterial des Kinos: Schatten
auf einer Wand und eine Geschichte über Gut und Böse.
Leones zweite Trilogie, die "Amerika"-Trilogie
von "Spiel mir das Lied vom Tod" über "Todesmelodie" bis zu
"Es war einmal in Amerika", ist als Triptychon vom
Werden Amerikas angelegt, aber als europäischer
Traum von Amerika, also aus einer Perspektive, die Amerika als Legende begreift
und als historischen Raum weitgehend ignoriert. Leone geht, wie Georg Seeßlen
so treffend bemerkt hat, von der ",Erinnerung’ der Europäer an ihre eigene
Phantasie von Amerika" aus und bezieht sich auf die Mythen des
US-amerikanischen Kinos und der US-Literatur – der Westen der frontier, die Turbulenzen der
gescheiterten Befreiungskämpfe Mexikos und die Gangsterherrschaft der
Prohibitionsära. In diesem Sinn ist der Titel des Auftaktfilms der Trilogie
eine luzide Zusammenfassung: "C'era una volta il West" bedeutet
korrekt übersetzt "Es war einmal der West"
– nicht "Es war einmal im Westen", wie der US-amerikanische
Titel verspricht oder gar der Imperativsatz "Spiel mir das Lied vom Tod",
den der deutsche Verleih wählte. Der italienische Titel ist treffender in
seinem Verweis auf die populäre Form, den Märchencharakter und den Mythos (C'era una volta…). Er vereint die
romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen, den Traum der europäischen Emigranten
von der Neuen Welt, die Projektion der Intellektuellen und der italienischen
Antifaschisten während der Mussolini-Jahre, sowie den mythischen Westen, der in
der Nostalgie des Cinephilen fortlebt, der seiner vom Kino genährten Phantasmen
der Kindheit gedenkt. Er verwendet nicht das italienische Wort für Westen, ovest, sondern
das englische West. Und
zugleich unterschlägt der Titel nicht die biografische Enttäuschung über die
Entzauberung des Traums: der Weste(r)n, das war einmal, ist nicht mehr,
zumindest nicht mehr so wie damals. Stuart Kaminskys Wertung in der St. James Film Directors Encyclopedia
wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas hoch gegriffen, doch sie trifft den
Kern: "Seit Franz Kafkas 'Amerika' hat kein europäischer Künstler sich mit
solcher Intensität der Bedeutung von amerikanischer Kultur und Mythologie
zugewandt. Sergio Leones Karriere ist bemerkenswert in ihrer unnachgiebigen
Aufmerksamkeit für zugleich Amerika und den amerikanischen Genrefilm. In
Frankreich nutzten Truffaut, Godard und Chabrol das amerikanische Kino als
Ausgangspunkt ihrer eigenen Vision. Aber Leone, ein Italiener, ein Römer, der
erst nach fünf Filmen über die USA begann, Englisch zu lernen, widmete den
Großteil seines kreativen Lebens dieser Erforschung."
In den fünf Jahren nach "Es
war einmal in Amerika" versuchte Leone, ein weiteres Großprojekt zu
organisieren. "Leningrado" sollte, frei auf
Harrison Salisburys "The 900 Days – The Siege of Leningrad" (1969) basierend, die Schlacht
um Leningrad im Zweiten Weltkrieg als
italienisch-sowjetische Koproduktion auf die Leinwand bringen. Es wäre sein erster
Film seit "Der Koloss von Rhodos" geworden, der wieder auf dem
europäischen Kontinent gespielt hätte. Aber Leone hatte ein Herzleiden und die
aufwändigen Dreharbeiten zu dem letzten Film hatten ihn stark angegriffen. Am
30. April 1989 starb er an einem Herzstillstand, während er im Fernsehen "I
Want to Live" (1958) von Robert Wise sah, dem er 1955 bei "Der Untergang von Troja" assistiert hatte. Er wurde
gerade einmal 60 Jahre alt.
Hinweis: Die beiden Schwarzweiß-Fotografien habe ich im
September 2012 im römischen Viertel Trastevere in der Viale Glorioso angefertigt,
in der Leone aufgewachsen ist und wo die Plakette (Bild 2) heute an einer
Hauswand an den berühmten Sohn des Viertels erinnert. (Copyright: Harald Steinwender)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen