LES LYONNAIS (A GANG STORY; F 2011, Regie: Olivier Marchal)
Eine Gang-Story, keine
Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur
Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten
Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im
korrupten Apparat anecken, so sehr über die Stränge schlagen und Sand ins Getriebe
werfen, dass sie zu Outcasts werden, hin zu denen, die von Anfang an draußen
sind und mit kriminellen Mitteln gegen die herrschende Ordnung opponieren. Doch
was ändert sich mit dem Wechsel vom Polizeifilm (bzw. Polizistenfilm) zum
Gangsterfilm? Nicht viel. Das ist kein Wunder, hat Marchal doch als Chronist der
Schattenseiten des Flic-Daseins seine
Polizeistücke stets in Schwarz gemalt, ohne jede Hoffnung und einzig im Glauben
an das Scheitern seiner Protagonisten.
Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In GANGSTERS (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, 36 – QUAI DES ORFÈVRES (36 – TÖDLICHE RIVALEN; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, MR 73 (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch'sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.
Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In GANGSTERS (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, 36 – QUAI DES ORFÈVRES (36 – TÖDLICHE RIVALEN; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, MR 73 (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch'sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.
Auch für die Gangster in
LES LYONNAIS gibt es keine Erlösung, kein Vergeben und Vergessen. Auch sie sind
gefangen in einem autoritären Männerbund, der sie zugleich beschützt wie zerstört.
Selbst im Ruhestand bedroht den Gangster seine Vergangenheit: "Aged 20. I
didn't know it, but it's already too late. Your fate is set. … Your past's your
flesh and blood. And in the end it drags you down", räsoniert der noch
namenlose Protagonist auf der Voice-over, bevor die Titel auf der Leinwand
erscheinen. Kein Ausweg, nirgends, keine Hoffnung, nicht einmal in einem Film,
der mit einer Taufe und einem großen Familienfest beginnt, das mit
Authentizität und Liebe zum Detail in Szene gesetzt ist und den Familienmythos
aus Coppolas THE GODFATHER (DER PATE; 1972) zitiert.
Edmond "Momon"
Vidal (Gérard Lanvin) ist dieser Mann, den seine Vergangenheit einholen wird.
Ein alternder Gangster, modelliert nach dem echten Edmond Vidal, der in Lyon Anfang
der 1970er Jahre mit seiner multiethnischen "Gang des Lyonnais" einige
spektakuläre Raubüberfälle durchgeführt hatte und von dessen Autobiografie sich
Marchal und sein Kodrehbuchautor Edgar Marie inspirieren ließen. Gérard Lanvins
Momon hat sich zur Ruhe gesetzt, sitzt, wie die Polizisten hoffen, nur noch in
Kneipen herum, trinkt und spielt Boule Lyonnaise, den Sport der alten Männer.
Momon ist ein massiger Kerl, der Bauch spannt sich unter dem Hemd, der graumelierte
Henriquatre-Bart im bronzefarbenen Gesicht verleiht ihm Züge eines Renaissancefürsten,
seine raumgreifenden Gesten und Bewegungen sowieso. Er ist ruhig und bestimmt,
reflektiert und besonnen. Und doch strahlt er eine unterschwellige Aggression
aus. Tatsächlich braucht es nicht lange, bis er in LES LYONNAIS einem
nichtsnutzigen Junggangster mit einer dieser silbern glänzenden Boule-Kugeln
beinahe den Schädel einschlägt. Trotzdem: an der Eskalation und der Rückkehr
zum gewalttätigen Gangstertum hat er kein Interesse. Wie Marchals Bullen will
er das Richtige und bewirkt stets das Falsche. Wie die Cops folgt auch Marchals
erster Gangsterprotagonist einem archaischen Code, den er über alles stellt,
auch wenn er längst weiß, dass falsch verstandener Stolz in den Tod führen kann.
Und vorher wird er alles und jeden verlieren, was er liebt. LES LYONNAIS ist
die Sorte Film, in der ein Protagonist sagt, er liebe seinen Hund sehr, und man
ahnt gleich, dass das Tier bald abgeschlachtet werden wird.
Für Momon, dem Gangster
aus der ärmlichen Roma-Siedlung, der sich mit Gewalt hochgekämpft hat und nun so
viel besitzt, dass er angreifbar geworden ist, gilt wie schon für Al Pacinos
alternden Paten in Coppolas THE GODFATHER: PART III (DER PATE – TEIL III; 1990):
"Every time I'm out, they pull me back in." Serge Suttel (Tchéky
Karyo), ein Jugendfreund, der sich 13 Jahre versteckt gehalten hat, kehrt aus
dem Untergrund zurück. Er war vor der Polizei abgetaucht und hat sich mit üblen
Gestalten eingelassen, gemordet, mit Drogen gehandelt und sich einige
einflussreiche Feinde gemacht. Nun entscheidet er sich am Tag der Taufe von
Momons Enkel, seine leibliche Tochter zu besuchen, um die sich der alte Freund kümmert.
Dabei wird er sogleich von Kommissar Brauner (Patrick Catalifo) und einem Polizeirollkommando
niedergerungen. Im Knast wird es der Alte nicht lange machen, das ist Momon
klar. Doch da er seiner Frau zuliebe der Gewalt abgeschworen hat, überlässt er die
Aufgabe, Serge rauszuhauen, einigen jungen Heißspornen. Das Resultat, wie nicht
anders zu erwarten: Ein Massaker. Und der Auftakt einer Serie von Gewalt und
Gegengewalt, die Marchal ebenso konsequent wie kompromisslos auf das bittere Ende
hin inszeniert.
Bezugspunkt dabei ist, wie
schon in Marchals vorangegangener Polizeifilmtrilogie, die Filmgeschichte: Von
Melvilles Gangsterfilmen, vor allem LE DOULOS (DER TEUFEL MIT DER WEISSEN
WESTE; 1962) und LE CERCLE ROUGE (VIER IM ROTEN KREIS; 1970), die Stilisierung
und die aufs Wesentliche begrenzte Inszenierung. Als Hommage à Coppola die
inhaltlichen Verweise auf die GODFATHER-Trilogie. Von José Giovanni das Existenzialistische
und das Einfühlungsvermögen in den Kriminellen, der immer auch Produkt seiner
Umwelt ist. Und natürlich von Leone die Art, wie Marchal virtuos drei
Zeitebenen miteinander verwebt, dazu Zeittransitionen zwischen Jugend, Erwachsensein
und Alter seiner Protagonisten vollzieht und zugleich den Mythos
Männerfreundschaft entzaubert. Wenn der alte Momon sich an seine Jugend
erinnert, dann verfährt Marchal wie Leone in ONCE UPON A TIME IN AMERICA (ES
WAR EINMAL IN AMERIKA; 1984) mit Noodles (Robert De Niro) und dessen
verschlungener recherche du temps perdu:
der Wechsel in die Vergangenheit wird stets durch Matchcuts vollzogen oder von
bedeutsamen Großaufnahmen eingeleitet, über die Grenzen der Zeit hinweg
tauschen Momon und Serge Blicke aus, eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung
überbrückt schon einmal mehrere Dekaden.
Allen Zitaten und der ausgestellten
Allusionstiefe zum Trotz ist LES LYONNAIS keinesfalls rückwärtsgewandt, sondern
Bestandteil des gegenwärtigen postklassischen Noir-Kinos aus Frankreich, das Marchal
mit seinen Filmen und seinen Drehbucharbeiten ganz maßgeblich beeinflusst hat. Tatsächlich
sind die Franzosen aktuell neben den Südkoreanern die einzigen, denen es immer
wieder gelingt, Genrekino im Geist der
wilden 1960er/70er Jahre zu inszenieren – in Serie und höchst populär. Nicolas
Boukhriefs LE CONVOYEUR (CASH TRUCK; 2004) und GARDIENS DE L'ORDRE (OFF LIMITS;
2010), Jacques Audiards DE BATTRE MON COEUR S'EST ARRÊTÉ (DER WILDE SCHLAG
MEINES HERZENS; 2005) und UN PROPHÈTE (EIN PROPHET; 2009), Fred Cavayés POUR
ELLE (OHNE SCHULD; 2008), Jean-François Richets L'INSTINCT DE MORT (PUBLIC
ENEMY NO. 1 – MORDINSTINKT; 2008) und L'ENNEMI PUBLIC N°1 (PUBLIC ENEMY NO. 1 –
TODESTRIEB; 2008) sowie Gilles Béhats DIAMOND 13 (DIAMANT 13; 2009) und
Frédéric Jardins NUIT BLANCHE (SLEEPLESS NIGHT; 2011) sind nur einige Beispiele
einer Erneuerung des europäischen Genrekinos, wie sie in Deutschland völlig
undenkbar erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese großartigen
Filme bei uns fast nie auf der großen Leinwand zu sehen sind. Keine einzige Regiearbeit
Marchals hatte in Deutschland einen Kinostart. Wer genug von der Beschränktheit
der deutschen Verleiher hat, kann sich jetzt schon einmal LES LYONNAIS aus
Frankreich als Blu-ray (mit englischen Untertiteln) bestellen. Es lohnt sich – der
Film wächst mit jeder Sichtung.
Update (28.07.2012): Das "Fantasy Filmfest", das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, bringt Marchals Film lobenswerterweise auf die große Leinwand. Nähere Informationen finden sich auf der Website des Festivals.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image #90, Juni 2012
Update (28.07.2012): Das "Fantasy Filmfest", das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, bringt Marchals Film lobenswerterweise auf die große Leinwand. Nähere Informationen finden sich auf der Website des Festivals.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image #90, Juni 2012
LES LYONNAIS (A GANG STORY; F 2011)
Regie: Olivier Marchal; Drehbuch: Olivier Marchal, Edgar Marie, nach der
Autobiografie von Edmond Vidal, Kamera: Denis Rouden; Produzenten: Cyril Colbeau-Justin,
Jean-Baptiste Dupont, David Giordano; Musik: Erwann Kermorvant; Schnitt: Hubert
Persat; Darsteller: Gérard Lanvin, Tchéky Karyo, Daniel Duval, Dimitri Storoge,
François Levantal, Patrick Catalifo, Francis Renaud, Etienne Chicot u. a.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen