Samstag, 23. Juni 2012

Odds Against Tomorrow: LES LYONNAIS (A GANG STORY)

LES LYONNAIS (A GANG STORY; F 2011, Regie: Olivier Marchal)


Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im korrupten Apparat anecken, so sehr über die Stränge schlagen und Sand ins Getriebe werfen, dass sie zu Outcasts werden, hin zu denen, die von Anfang an draußen sind und mit kriminellen Mitteln gegen die herrschende Ordnung opponieren. Doch was ändert sich mit dem Wechsel vom Polizeifilm (bzw. Polizistenfilm) zum Gangsterfilm? Nicht viel. Das ist kein Wunder, hat Marchal doch als Chronist der Schattenseiten des Flic-Daseins seine Polizeistücke stets in Schwarz gemalt, ohne jede Hoffnung und einzig im Glauben an das Scheitern seiner Protagonisten.
Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In GANGSTERS (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, 36 – QUAI DES ORFÈVRES (36 – TÖDLICHE RIVALEN; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, MR 73 (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch'sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.

Auch für die Gangster in LES LYONNAIS gibt es keine Erlösung, kein Vergeben und Vergessen. Auch sie sind gefangen in einem autoritären Männerbund, der sie zugleich beschützt wie zerstört. Selbst im Ruhestand bedroht den Gangster seine Vergangenheit: "Aged 20. I didn't know it, but it's already too late. Your fate is set. … Your past's your flesh and blood. And in the end it drags you down", räsoniert der noch namenlose Protagonist auf der Voice-over, bevor die Titel auf der Leinwand erscheinen. Kein Ausweg, nirgends, keine Hoffnung, nicht einmal in einem Film, der mit einer Taufe und einem großen Familienfest beginnt, das mit Authentizität und Liebe zum Detail in Szene gesetzt ist und den Familienmythos aus Coppolas THE GODFATHER (DER PATE; 1972) zitiert.

Edmond "Momon" Vidal (Gérard Lanvin) ist dieser Mann, den seine Vergangenheit einholen wird. Ein alternder Gangster, modelliert nach dem echten Edmond Vidal, der in Lyon Anfang der 1970er Jahre mit seiner multiethnischen "Gang des Lyonnais" einige spektakuläre Raubüberfälle durchgeführt hatte und von dessen Autobiografie sich Marchal und sein Kodrehbuchautor Edgar Marie inspirieren ließen. Gérard Lanvins Momon hat sich zur Ruhe gesetzt, sitzt, wie die Polizisten hoffen, nur noch in Kneipen herum, trinkt und spielt Boule Lyonnaise, den Sport der alten Männer. Momon ist ein massiger Kerl, der Bauch spannt sich unter dem Hemd, der graumelierte Henriquatre-Bart im bronzefarbenen Gesicht verleiht ihm Züge eines Renaissancefürsten, seine raumgreifenden Gesten und Bewegungen sowieso. Er ist ruhig und bestimmt, reflektiert und besonnen. Und doch strahlt er eine unterschwellige Aggression aus. Tatsächlich braucht es nicht lange, bis er in LES LYONNAIS einem nichtsnutzigen Junggangster mit einer dieser silbern glänzenden Boule-Kugeln beinahe den Schädel einschlägt. Trotzdem: an der Eskalation und der Rückkehr zum gewalttätigen Gangstertum hat er kein Interesse. Wie Marchals Bullen will er das Richtige und bewirkt stets das Falsche. Wie die Cops folgt auch Marchals erster Gangsterprotagonist einem archaischen Code, den er über alles stellt, auch wenn er längst weiß, dass falsch verstandener Stolz in den Tod führen kann. Und vorher wird er alles und jeden verlieren, was er liebt. LES LYONNAIS ist die Sorte Film, in der ein Protagonist sagt, er liebe seinen Hund sehr, und man ahnt gleich, dass das Tier bald abgeschlachtet werden wird.

Für Momon, dem Gangster aus der ärmlichen Roma-Siedlung, der sich mit Gewalt hochgekämpft hat und nun so viel besitzt, dass er angreifbar geworden ist, gilt wie schon für Al Pacinos alternden Paten in Coppolas THE GODFATHER: PART III (DER PATE – TEIL III; 1990): "Every time I'm out, they pull me back in." Serge Suttel (Tchéky Karyo), ein Jugendfreund, der sich 13 Jahre versteckt gehalten hat, kehrt aus dem Untergrund zurück. Er war vor der Polizei abgetaucht und hat sich mit üblen Gestalten eingelassen, gemordet, mit Drogen gehandelt und sich einige einflussreiche Feinde gemacht. Nun entscheidet er sich am Tag der Taufe von Momons Enkel, seine leibliche Tochter zu besuchen, um die sich der alte Freund kümmert. Dabei wird er sogleich von Kommissar Brauner (Patrick Catalifo) und einem Polizeirollkommando niedergerungen. Im Knast wird es der Alte nicht lange machen, das ist Momon klar. Doch da er seiner Frau zuliebe der Gewalt abgeschworen hat, überlässt er die Aufgabe, Serge rauszuhauen, einigen jungen Heißspornen. Das Resultat, wie nicht anders zu erwarten: Ein Massaker. Und der Auftakt einer Serie von Gewalt und Gegengewalt, die Marchal ebenso konsequent wie kompromisslos auf das bittere Ende hin inszeniert.

Bezugspunkt dabei ist, wie schon in Marchals vorangegangener Polizeifilmtrilogie, die Filmgeschichte: Von Melvilles Gangsterfilmen, vor allem LE DOULOS (DER TEUFEL MIT DER WEISSEN WESTE; 1962) und LE CERCLE ROUGE (VIER IM ROTEN KREIS; 1970), die Stilisierung und die aufs Wesentliche begrenzte Inszenierung. Als Hommage à Coppola die inhaltlichen Verweise auf die GODFATHER-Trilogie. Von José Giovanni das Existenzialistische und das Einfühlungsvermögen in den Kriminellen, der immer auch Produkt seiner Umwelt ist. Und natürlich von Leone die Art, wie Marchal virtuos drei Zeitebenen miteinander verwebt, dazu Zeittransitionen zwischen Jugend, Erwachsensein und Alter seiner Protagonisten vollzieht und zugleich den Mythos Männerfreundschaft entzaubert. Wenn der alte Momon sich an seine Jugend erinnert, dann verfährt Marchal wie Leone in ONCE UPON A TIME IN AMERICA (ES WAR EINMAL IN AMERIKA; 1984) mit Noodles (Robert De Niro) und dessen verschlungener recherche du temps perdu: der Wechsel in die Vergangenheit wird stets durch Matchcuts vollzogen oder von bedeutsamen Großaufnahmen eingeleitet, über die Grenzen der Zeit hinweg tauschen Momon und Serge Blicke aus, eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung überbrückt schon einmal mehrere Dekaden.

Allen Zitaten und der ausgestellten Allusionstiefe zum Trotz ist LES LYONNAIS keinesfalls rückwärtsgewandt, sondern Bestandteil des gegenwärtigen postklassischen Noir-Kinos aus Frankreich, das Marchal mit seinen Filmen und seinen Drehbucharbeiten ganz maßgeblich beeinflusst hat. Tatsächlich sind die Franzosen aktuell neben den Südkoreanern die einzigen, denen es immer wieder gelingt, Genrekino im Geist  der wilden 1960er/70er Jahre zu inszenieren – in Serie und höchst populär. Nicolas Boukhriefs LE CONVOYEUR (CASH TRUCK; 2004) und GARDIENS DE L'ORDRE (OFF LIMITS; 2010), Jacques Audiards DE BATTRE MON COEUR S'EST ARRÊTÉ (DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS; 2005) und UN PROPHÈTE (EIN PROPHET; 2009), Fred Cavayés POUR ELLE (OHNE SCHULD; 2008), Jean-François Richets L'INSTINCT DE MORT (PUBLIC ENEMY NO. 1 – MORDINSTINKT; 2008) und L'ENNEMI PUBLIC N°1 (PUBLIC ENEMY NO. 1 – TODESTRIEB; 2008) sowie Gilles Béhats DIAMOND 13 (DIAMANT 13; 2009) und Frédéric Jardins NUIT BLANCHE (SLEEPLESS NIGHT; 2011) sind nur einige Beispiele einer Erneuerung des europäischen Genrekinos, wie sie in Deutschland völlig undenkbar erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese großartigen Filme bei uns fast nie auf der großen Leinwand zu sehen sind. Keine einzige Regiearbeit Marchals hatte in Deutschland einen Kinostart. Wer genug von der Beschränktheit der deutschen Verleiher hat, kann sich jetzt schon einmal LES LYONNAIS aus Frankreich als Blu-ray (mit englischen Untertiteln) bestellen. Es lohnt sich – der Film wächst mit jeder Sichtung.

Update (28.07.2012): Das "Fantasy Filmfest", das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, bringt Marchals Film lobenswerterweise auf die große Leinwand. Nähere Informationen finden sich auf der Website des Festivals.



Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image #90, Juni 2012


LES LYONNAIS (A GANG STORY; F 2011)
Regie: Olivier Marchal; Drehbuch: Olivier Marchal, Edgar Marie, nach der Autobiografie von Edmond Vidal, Kamera: Denis Rouden; Produzenten: Cyril Colbeau-Justin, Jean-Baptiste Dupont, David Giordano; Musik: Erwann Kermorvant; Schnitt: Hubert Persat; Darsteller: Gérard Lanvin, Tchéky Karyo, Daniel Duval, Dimitri Storoge, François Levantal, Patrick Catalifo, Francis Renaud, Etienne Chicot u. a.



Und hier noch der Originaltrailer via Youtube:



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