CELDA 211
(„Cell 211“; E-F 2009, Regie: Daniel Monzón)
Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, bis er eine scharfe Klinge gefertigt hat. Dann öffnet er sich damit über dem Waschbecken die Pulsadern. Die Kamera registriert diese Selbsttötung, distanziert-beobachtend, abwartend, um dann ins Schwarzbild abzublenden. Ein pessimistischer Auftakt für einen pessimistischen Film, genauer: einen Gefängnisfilm, dem vom Sujet her sowieso schon düsteren Genre par excellence.
Gefängnisfilme, ob in der Ausbrecher- oder Gangstervariante, als engagiertes Sozialmelodram oder harter Thriller, erzählen im Kern immer von zwei Sorten von Menschen: Wärtern und Gefangenen. Die einen sind im Genre immer der Spiegel der anderen, beide jeweils eine Seite der gleichen Medaille. Ohne Wärter keine Gefangene. Ohne Gefangene keine Wärter. Die Summe des Genres brachte Alan Clarke in „Scum“ („Abschaum“; 1977 und 1979) auf den Punkt. Da erklärt ein Anarchist – eine Figur, die wie der Verräter, der Kapo, der Bandenführer, das ewige Opfer, der Mitläufer zu den Standardtypen des Genres zählt – einem Wärter in einer Kaffeepause, dass sie sich doch sehr ähnlich seien: Wärter wie Gefangene sind dem disziplinierenden Rhythmus des Systems Gefängnis unterworfen, werden permanent überwacht, befinden sich die meiste Zeit des Tages hinter Gittern, folgen stumpfsinnigen Routinen und Befehlen, deren Missachtung Sanktionen nach sich ziehen. Nur einen Unterschied gibt es: die Gefangenen sind nicht freiwillig hier.
Daniel Monzóns „Cell 211“ spitzt diesen Grundkonflikt zu und stellt ihn zugleich auf den Kopf, indem er den jungen Wärter Juan (Alberto Ammann) beim Antrittsbesuch am Vortag vor seinem regulären Arbeitsbeginn zum Gefangenen wider Willen macht, ihn mitten in einem blutigen Gefängnisaufstand wirft, so dass er sich als Gefangener ausgeben muss, um irgendwie zu überleben. Er geht eine Art Männerfreundschaft mit dem gewalttätigen Malamadre (Daniel Monzón) ein, dem Anführer des Aufstands. Über die folgenden Ereignisse wird er immer mehr zum echten Verbrecher. Bald übersteigt er Malamadre an Verve als Aufrührer und Killer. Freilich hat er zunächst kaum eine Wahl. Aber später ist dann alles egal, denn die Staatsgewalt draußen verstellt ihm alle Möglichkeiten, in sein normales Leben zurückzukehren und zu weit ist er sowieso schon gegangen. Was Monzón sagen will, ist offensichtlich: Eine Gesellschaft, die Gefängnisse entwirft und unterhält, schafft keine Disziplinierungsanstalten, sondern Institutionen, die vor allem eines produzieren: Gefangene, emotional und intellektuell verkrüppelte Menschen, die vor allem über Gewalt kommunizieren, strukturelle wie physische. Sie kennen es nicht mehr anders, der Knast sorgt dafür. Und Malamadre hat ganz recht, wenn er in Bezug auf seinen Aufstand bemerkt, dass die da draußen auch nur eines verstehen würden: Gewalt.
Daniel Monzóns Malamadre ist eine ungewöhnlich komplexe, auch widersprüchliche Figur im Genre: Ein Aufrührer mit pechschwarzen, funkelnden Augen, der mal gegen Drogen wettert, dann selbst kokst, der Anteilnahme ebenso wie eiskaltes Kalkül an den Tag legt, ein Anführer, der seine Jünger in den Tod führt (Malamadre – böse Mutter – ist natürlich ein „sprechender Name“). Und trotz seiner soziopathischen Erscheinung agiert er letztlich auch wie einer von Hobsbawms Sozialrebellen. Malamadre hat nichts zu verlieren und nur wenig zu gewinnen und so rennt er gegen die Ordnung an, nicht blind, sondern mit den Mitteln eines archaischen Banditenführers. Sein vorgebliches Ziel ist die Verbesserung der Haftbedingungen und in seinem Selbstverständnis unterscheidet er sich kaum von den ETA-Aktivisten, die er als Geiseln nimmt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Schließlich ist es ausgerechnet der ehemalige Wärter Juan, der ihn davon überzeugt, dass sich sowieso nichts ändern wird, wenn er sich von denen da draußen mit leeren Versprechungen abspeisen lässt. Was bleibt ist der blutige Exzess, der blindwütige Aufstand, wie er schon am Ende von Clarkes „Scum“ stand und vielleicht gerade durch seinen Blutzoll etwas bewirken kann.
„Cell 211“ steht in der Tradition des sozial engagierten Gefängnisfilms. Monzóns Film ist kein Epos wie Jacques Audiards brillanter „Un prophète“ („Ein Prophet“; 2009), kein zermürbender Trip in den Nihilismus wie John Hillcoats „Ghosts ... of the Civil Dead“ („Willkommen in der Hölle“; 1988), auch kein formales Experiment wie Sidney Lumets „The Hill“ („Ein Haufen toller Hunde“; 1965) oder Nicolas Winding Refns „Bronson“ (2008). „Cell 211“ steht eher in der Tradition von George W. Hills stilprägendem „The Big House“ („Hölle hinter Gittern“; 1930); Don Siegels düsterem „Riot in Cell Block 11“ („Terror in Block 11“; 1954) und John Frankenheimers ausweglosem TV-Drama „Against the Wall” – lupenreine, klassische Genrefilme ohne Schnörkel. Sein bitteres Ende erinnert an die Genreproduktionen der 70er Jahre, als es in Europa noch funktionierende Filmindustrien gab und Kompromisse noch nicht vom Gremienkino erzwungen wurden. Das macht „Cell 211“ trotz Logiklöchern und kleiner Mankos zu einem äußerst erfrischenden, begrüßenswerten Film.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image, Heft 84
Cell 211
OT: Celda 211
E-F 2009 – 113 Min.
Regie: Daniel Monzón - Drehbuch: Daniel Monzón, Jorge Guerricaechevarría, nach einem Roman von Francisco Pérez Gandul - Kamera: Carles Gusi - Produzenten: Álvaro Augustín, Juan Gordon, Emma Lustres Gómez, Borja Pena - Musik: Roque Baños - Schnitt: Cristina Pastor – Besetzung: Luis Tosar, Alberto Ammann, Antonio Resines, Manuel Morón, Carlos Bardem, Marta Etura u.a.
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