Donnerstag, 30. Dezember 2010

Riot in Cell 211: Daniel Monzóns CELDA 211



CELDA 211
(„Cell 211“; E-F 2009, Regie: Daniel Monzón)

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, bis er eine scharfe Klinge gefertigt hat. Dann öffnet er sich damit über dem Waschbecken die Pulsadern. Die Kamera registriert diese Selbsttötung, distanziert-beobachtend, abwartend, um dann ins Schwarzbild abzublenden. Ein pessimistischer Auftakt für einen pessimistischen Film, genauer: einen Gefängnisfilm, dem vom Sujet her sowieso schon düsteren Genre par excellence.

Samstag, 11. Dezember 2010

Mexploitation: MACHETE


MACHETE
(USA 2010; Regie: Robert Rodriguez)

Machete Cortez ist tough as nails, bad to the bone, kurz: a motherfucker as bad as they come. Er ist alles andere als schön, zumindest im herkömmlichen Sinn. Sein Gesicht ist runzelig und pockennarbig wie eine Mondlandschaft, sein Köper bullig und massiv, seine langen ungebändigten Haare ölig, im Gesicht thront ein schwarzer Walrossbart. Danny Trejo spielt diesen Machete – ein archetypischer Bad-guy-Darsteller, dessen reales Leben ihn für solche Rollen zu prädestinieren scheint: schon in jungen Jahren drogenabhängig und kleinkriminell, insgesamt elf Jahre im Knast, u.a. in San Quentin für Drogendelikte und bewaffnetem Raub, bevor er als Schauspieler zu sich und weg von der Straße fand.

Montag, 1. November 2010

Style and Substance: IO SONO L’AMORE


IO SONO L’AMORE / I AM LOVE
(Italien 2009; Regie: Luca Guadagnino)

Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele zu nennen, die Filmgeschichte geprägt; Kameramänner wie Vittorio Storaro, Tonino Delli Colli und Giuseppe Rotunno uns neu sehen gelernt. Die Bildermacht des italienischen Kinos resultierte zum einen in den exzellenten Kameramännern und Technikern der italienischen Filmindustrie, zum anderen in der Bevorzugung des Bildes gegenüber der Tonspur, die sich etwa in der lange Zeit bevorzugten Arbeitsweise italienischer Filmteams ohne direkten Ton niederschlug. Hier bedeuteten die Bilder – wie im Stummfilm – noch alles.

Dienstag, 26. Oktober 2010

Es war einmal in Irland - Neil Jordans ONDINE


„Ondine – Das Mädchen aus dem Meer“
(Irland-USA 2009; Regie: Neil Jordan)

Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines Tages sein Netz einholte, da fand er dort statt einem Fisch eine junge, bildschöne Frau. Sein Fang hatte keinen Namen und keine Erinnerung an ihr früheres Leben und so wählten sie gemeinsam den Namen Ondine. Und da die Frau, die aus dem Meer kam, scheu war, scheuer noch als der Fischersmann, und andere Menschen fürchtete, blieb sie bei dem Fischer, der schnell Gefallen an ihr fand. Bald nahm er die Frau aus dem Meer mit auf See und wenn sie für ihn in ihrer fremden Sprache sang, dann blieben seine Netze nicht mehr leer, sondern waren mit Hummer und Lachsen gefüllt. Bald wollte der Fischersmann seine neue Begleiterin nicht mehr missen und auch seine Tochter, die an einer schrecklichen Krankheit litt, gewann die Frau aus dem Meer lieb. Doch die Frau aus dem Meer war keine Meerjungfrau, sondern eine ganz normale Frau mit einer nicht ganz normalen Vergangenheit. Und so kam es, dass eines Tages ein Mann ganz in Schwarz aus einem fernen Land tief im Osten Europas in das kleine Fischerdorf kam, um die Frau aus dem Meer zu suchen.

Samstag, 9. Oktober 2010

Citizen Nerd – THE SOCIAL NETWORK




“The Social Network” (“The Social Network”)


David Fincher ist erwachsen geworden. Bislang war der Filmemacher, der in den 1980er Jahren bezeichnenderweise als Videoclipregisseur und Trickfilmzeichner für Blockbuster wie „Rückkehr der Jedi-Ritter“ und „Die unendliche Geschichte“ angefangen hatte, vornehmlich als höchst begabter Ästhet aufgefallen; als jemand, der einen guten Effekt, sei es dramaturgischer oder visueller Art, so sehr zu schätzen wusste, dass seine Filme zwar äußerlich perfekt, doch inhaltlich mitunter etwas gehaltlos wirkten.

Donnerstag, 30. September 2010

Southern Gothic – THE LAST EXORCISM


“The Last Exorcism” (“Der letzte Exorzimus”)


Jesus selbst sein ein Exorzist gewesen, erklärt der charismatische Prediger Cotton Marcus (Patrick Fabian) dem Filmteam, das sich aufgemacht hat, einen modernen Dämonenaustreiber zu porträtieren. Doch Marcus, einst ein eifernder evangelikaler Priester und noch immer praktizierender Exorzist, glaubt schon lange nicht mehr an den Teufel. Exorzismen betrachtet er eher als einen Gemeindedienst, das letztmögliche Mittel, wenn Schulmedizin und Psychiatrie nicht mehr helfen. Nebenbei sind sie eine gute Einkommensquelle für den Prediger. Und so sind seine Exorzismen allesamt Scharlatanerie, bei der geschickt platzierte Drähte, Soundeffekte und theatralische Mimik zum Einsatz kommen. Meist reicht das aus, den oder die „Besessene“ zur Räson zu bringen, gewissermaßen als spirituelles Placebo. Nun aber will der Priester aus dem Geschäft aussteigen. Ein fehlgeschlagener Exorzismus an einem autistischen Jungen hat ihn endgültig vom Glauben an sein Tun abgebracht. Nur einen allerletzten Exorzismus will er noch durchführen, dem Dokumentarteam zuliebe, und dabei alle seine Tricks aufdecken. Dass es dieser letzte Exorzismus in sich haben wird, daran zweifelt niemand, der mehr als einen Horrorfilm gesehen hat.

Dienstag, 24. August 2010

Guys on a Mission: THE EXPENDABLES


The Expendables


Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten zeitgenössischer Befindlichkeit angepasst. Die Sechziger und Siebziger erlebten ihr Revival mit mehr oder weniger gelungenen Remakes von ehemaligen Blockbustern wie Ocean’s Eleven (1960/2001), The Italian Job (1969/2003), The Longest Yard (1974/2005). Jetzt sind offenbar die Achtziger dran. Ganz oben auf der Retro-Welle schwimmt Sylvester Stallone, der mit Rocky Balboa (2006) und John Rambo (2009) kürzlich seine erfolgreichsten Filmserien recycelt hat.

Sonntag, 15. August 2010

Der Müll, die Stadt und der Tod: Dino Risis ANIMA PERSA


Anima Persa / Âmes perdues (Lost Souls) – F-I 1977 – Regie: Dino Risi – Buch: Dino Risi, Bernardino Zapponi, nach einem Roman von Giovanni Arpino – Kamera: Tonino Delli Colli – Musik: Francis Lai – Schnitt: Alberto Gallitti – Produzenten: Pio Angeletti, Adriano De Micheli – Darsteller/innen: Danilo Mattei (Tino), Vittorio Gassman (Fabio Stolz), Catherine Deneuve (Sofia Stolz), Anicée Alvina (Lucia), Michele Capnist (Il Duca), Ester Carloni (Annetta) u.a. – Studio: Dean Film, Les Productions Fox Europa – Format: VistaVision (1,96:1), 35 mm – Länge: 100 min. – Erstaufführung: 20.01.1977 (Italien).


Venedig trägt, wie so oft im Kino, Trauer. Pittoresk modern die Gebäude, das Wasser der Lagune schimmert trübe, Müll treibt obenauf. „Wie schmutzig unsere Stadt geworden ist!“, klagt einer der Protagonisten in Dino Risis Anima Persa (Lost Soul; 1977). Und, ja, die Stadt ist schmutzig, und sie birgt obendrein allerlei dunkle Geheimnisse ihrer Bewohner. Venedig als Gemütszustand, als trist-morbider Sumpf, der wahlweise Kinder oder deren Eltern in den Tod reißt: So hat bereits Nicolas Roeg Venedig in seinem Meisterwerk Don’t Look Now (Wenn die Gondeln Trauer tragen; 1973) eingesetzt, einem britisch-italienischen Thriller mit Giallo-Motiven. Vor ihm hatte unter anderem Aldo Lado hier seine exquisit fotografierte Mörderhatz Chi l’ha vista morire? (The Child - Die Stadt wird zum Alptraum; 1972) gedreht, von der sich Roeg ganz offensichtlich inspirieren ließ. Auch Viscontis Morte a Venezia (Tod in Venedig; 1971) zelebrierte den dekadenten Verfall, das Siechtum aufs Raffinierteste ästhetisiert und bis zum Exzess überhöht. Selbst ein Amerikaner wie Paul Schrader, ein Calvinist zudem, sollte zwei Dekaden später in The Comfort of Strangers (Der Trost von Fremden; 1990) Venedig auf diese Weise inszenieren, auch wenn er den Piazze wenigstens einen Hauch Strahlkraft zugesteht. Mörderisch war das Treiben der Venezianer auch bei ihm freilich, sein Film zudem fast epigonal auf Roegs stilprägenden Thriller bezogen.

Im Gegensatz zu all diesen Regisseuren, Europäern wie Amerikanern, ist Dino Risi (1916-2008)
vor allem als Komödienregisseur bekannt. Von ihm stammen Filme wie Una vita difficile (1961), Il sorpasso (Verliebt in scharfe Kurven; 1962) und I mostri (1963) sowie Profuma di donna (Der Duft der Frauen; 1974), Kassenschlager allesamt zu ihrer Zeit. Dass er sich in den späten 1970ern, also zur gleichen Zeit, als Dario Argento sein blutiges Technicolor-Meisterwerk Suspiria (1977) inszenierte, an einem Horrorfilm versucht, erscheint nur auf dem ersten Blick ungewöhnlich. Letztlich erzählen auch die italienischen Komödien immer von Mord und Totschlag, Krankheit, Verfall und Elend, Krieg und Katastrophen. Der Humor der Commedia all’italiana war immer nachtschwarz. Ein wenig hiervon hat Risi auch in seinen boshaften, antibourgeoisen Horrorfilm hinüber gerettet, der Luis Buñuel und den Surrealisten in vieler Beziehung näher steht, als den Filmen von Mario Bava, Dario Argento oder Lucio Fulci.

Anima Persa beginnt mit morbiden Stadtimpressionen Venedigs, aus einer motorisierten Gondel aufgenommen. Die Kamera führt Tonino Delli Colli, einer der bedeutendsten Kameramänner Italiens (1922-2005), der zwischen 1944 und 1997 mehr als 130 Filme fotografiert hat, darunter Klassiker wie Leones Il Buono, il Brutto, il Cattivo (Zwei glorreiche Halunken; 1966) und Once Upon a Time in America (Es war einmal in Amerika; 1984), experimentelle Genrefilme wie Elio Petris Un Tranquillo posto in campagna (Das verfluchte Haus; 1968) und Kunstfilme von Fellini und Pasolini. Delli Collis Kamera zeigt uns die Rückkehr eines verlorenen Sohns Venedigs, des noch jugendlich wirkenden Tinos (Danilo Mattei), der nach Jahren zu Tante und Onkel zurückkehrt, um in der Lagunenstadt die Malerei zu erlernen. Ungläubig starrt Tino die Stadt an, die Villen der Reichen, ihre Palazzi, die korrodierten Oberflächen, die barocken, vom sauren Regen zerfressenen Verzierungen. Wer hier wohne, fragt er den Gondoliere. „I genti“, entgegnet dieser. Die aber blieben nur in ihren Häusern, ergänzt er. Und tatsächlich, die Häuser, die an der schwankenden Kamera vorbeiziehen, wirken ein wenig wie modernde Särge – Venezia, città dei morti viventi.


Diesem dem Tod geweihten Großbürgertum gehört offensichtlich Tinos Tante Sofia (ätherisch: Catherine Deneuve) an. Auch sie verlässt so gut wie nie das Haus, und hält es in ihrer Wohnung doch kaum länger als ein paar Minuten in einem Raum aus. Wie getrieben eilt sie bei Tinos Ankunft durch die weitläufige Villa, lockt ihren Neffen hinter sich her, durch immer neue Räume, einer grotesker und größer als der andere, bis ins eheliche Schlafzimmer. Ein unausgesprochenes Angebot steht im Raum, zumal ihr Mann außer Hause weilt. Oder kokettiert die junge Ehefrau nur ein wenig mit ihrer Ausstrahlung auf einen noch jüngeren Mann? Vieles erscheint merkwürdig in diesem Haushalt. Auch die Haushälterin (Ester Carloni), die wir am ersten Abend kennenlernen, ist ein Faktotum, eine komische Alte mit kieksiger Stimme, die einem derben Bauernschwank entsprungen sein könnte. Nur wenig erfahren wir hingegen über Tinos Onkel. Er trägt den für einen Italiener recht ungewöhnlichen Namen Stolz. Der Signore mit dem deutschen Namen – angeblich stammt er von den Habsburgern ab – arbeitet bei den Gaswerken, auch das ein böser Scherz. Bei der Tour durch das nur teilrestaurierte Haus („Look at the decay!“) erfährt Tino zudem von einer Treppe zu einer verbotenen Kammer. Und nachts spielen die Ratten auf dem Klavier, wenn sie über die Tasten rennen. Über dem Zimmer des Jungen erklingen seltsame Geräusche. Dass dies nur das Holz sein soll, das in dem alten Palazzo arbeitet, will der Junge der Tante nicht glauben. Zu Recht.


Ist die Tante mit ihren nervösen Tics und dem Sauberkeitsfimmel schon zwanghaft, da erweist sich Onkel Fabio (Vittorio Gassman) als gänzlich neurotisch. Bereits am Bett predigt er seinem Neffen Platon und die Vorzüge militärischer Disziplin. Später zitiert er Hölderlins Das Angenehme dieser Welt: „Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gern!“ Ob das nicht schön klänge, auf Deutsch?, fragt er den Neffen. Obendrein schwärmt Fabio von den pittoresken Morden, die Venedig in den letzten Jahrzehnten zu bieten hatte. Beim Stadtbummel reißt er dann einen Hippie an dessen langen Haaren. Wer bis jetzt noch nicht verstanden hat, dass der Mann ein autoritärer Charakter ist, wird es wohl nie bemerken. Tino jedoch scheint dies kaum zu berühren, er richtet sich in dem seltsamen Umfeld provisorisch ein, neugierig, aber auch ein wenig distanziert, fast so, als ob er auf einem fremden Kontinent einen noch unbekannten Stamm erforscht.


Tinos eigentliches Studienobjekt aber ist der weibliche Körper, das macht der Film schnell deutlich. Neben seiner Tante lernt Tino gleich am ersten Tag in der Kunstklasse das studentische Aktmodell Lucia (Anicée Alvina) kennen, und natürlich verguckt er sich sogleich in sie. Auch steht das Haus, also der Ort, auf den Tino neben den beiden Frauen den Großteil seiner Neugierde aufbringt, im Horrorfilm per se für den weiblichen Körper, zumindest in der psychoanalytischen Lesart des Genres. Beides kommt schließlich zusammen, wenn Tino in Abwesenheit seiner Ersatzeltern zusammen mit Lucia lustvoll das geheimnisvolle Haus erforscht, inklusive einer Commedia dell’arte-Einlage auf der hauseigenen Theaterbühne, auf der beide gemeinsam einen Lazzo aufführen. Danach stürzen sie in Slapstickmanier aus dem Raum, in einen offenbar seit langem unberührten Kinderraum, voller Puppen und Kleider. Dort werden sie dann von der Verwandtschaft in flagranti ertappt. Dabei wirkt das Geschehen zusehends, als würden Onkel und Tante alles für den Neffen inszenieren; erst das Haus verlassen, um ihn dann zu ertappen und so ein Art perverser Familienaufstellung einzurichten. Fabio könnte dabei direkt Buñuels El (1953; Er) entsprungen sein und Sofia, nicht nur durch die Besetzung mit der Deneuve, Belle de Jour (1967). Am Ende überbietet Risi allerdings selbst Buñuels bürgerliche Perversionen und deckt ein dunkles Familiengeheimnis auf; Inzest, Päderastie und Schizophrenie. Danach verlässt Tino Venedig wieder auf dem gleichen Weg, auf dem er es erreicht hat, immer noch unberührt, kaum verändert, höchstens etwas älter.



Abgesehen von dem ungewöhnlichen Plot, seiner traumartigen Atmosphäre und der dezidiert unrealistischen Auflösung ist Anima Persa vor allem ein visuell beeindruckender Film, der anfangs subtil, dann immer unnachgiebiger die Grenzen einer rein rationalen Erzählung aufgibt. Delli Collis Kamera erforscht das Haus mittels eleganter Fahrten und Schwenks, die Lichtsetzung evoziert das Chiaroscuro Caravaggios. Einige Bilder und Sequenzen sind unvergesslich: Etwa wenn Onkel und Neffe auf das Meer hinaus fahren, an einem riesigen, verfallenden Öltanker vorbei, der wie ein urzeitlicher gestrandeter Wal wirkt. Die barocke Einrichtung einzelner Räume sowie das labyrinthische Haus sind höchst einprägsam; in einer Bar scheinen die Gäste wie zu Salzsäulen versteinert; einmal starrt die Kamera wie eine Spinne aus einer Ecke von der Decke herab auf die im Wohnzimmer versammelte dysfunktionale Familie. Abgesehen von solchen Sequenzen gelingt es Risi, vom schwermütig-surrealen Anfang bis zum boshaft-ironischen Ende, den eigentlich recht einfachen Plot mit einer Unzahl von Schlenkern, falschen Fährten und Abweichungen zu erzählen und damit jede Erwartung zu unterlaufen. Letztlich erweist sich Anima Persa nicht als Horrorfilm, sondern als anspielungsreicher dunkel-ironischer Bildungsroman sowie als Parodie aufs Genre, die gänzlich ohne Morde und übernatürliche Elemente auskommt. Neben den genannten Werken Viscontis, Lados und Roegs ist Risis Film obendrein einer der schönsten (das heißt: hässlichsten) Venedig-Filme der Filmgeschichte. Sehr zu unrecht ist er heute weitgehend vergessen, trotz seiner starken Besetzung mit Vittorio Gassman und Catherine Deneuve, trotz der Beteiligung von Delli Colli und Risi, trotz seiner Qualität. In Deutschland hat der durchaus seriöse Film den unfassbar peinlichen Verleihtitel Ejakulat des Grauens erhalten. Der Verleiher muss besoffen gewesen sein. Auch das hat der Film nicht verdient.



Donnerstag, 13. Mai 2010

Aktuelle Filmkritiken – Melos und RomComs, Actionspektakel und europäisches Arthouse-Kino



Da ich in letzter Zeit recht viel um die Ohren hatte, bin ich leider kaum dazu gekommen, neue Texte für den Blog zu schreiben. Daher nun ersatzweise eine kommentierte Sammlung von Links zu Texten, die ich in letzter Zeit für den Bayerischen Rundfunk bzw. für die Online-Ausgabe von „Kino Kino“ geschrieben habe, das dienstälteste Kinomagazin des deutschen Fernsehen.

Diese Reviews sind tagesaktuelle Kritiken und die Filme rangieren dementsprechend von Werken, die ich mir sonst nie angesehen hätte – bodenloser Mist eingeschlossen ebenso wie echte Überraschungen –, über die übliche Mainstreamunterhaltung bis hin zu echten Perlen – wie das eben so ist, wenn der Zufall, respektive der Terminkalender und/oder der zuständige Redakteur einem die Filme zuteilt.

Beginnen wir mit den Fehlgriffen und Flops. Zu dieser Kategorie zählen definitiv die meisten der Romantic Comedies, oder Neudeutsch: „RomComs“, die ich mir angesehen habe – sowieso ein Genre mit einem Überschuss an retortenhaft angefertigten, lieblosen 08/15-Produktionen. Ein exzeptionell missratenes Beispiel, aktuell noch in den Kinos, ist etwa die Sandra-Bullock-Komödie All About Steve (Verrückt nach Steve; 2009; Phil Traill), die sich nicht entblödet im Originaltitel auf Joseph L. Mankiewicz’ selbstreflexiven Klassiker All About Eve (Alles über Eva, 1950) zu rekurrieren. Der deutsche Verleih stapelt dagegen etwas tiefer und versucht, an Verrückt nach Mary (There’s Something About Mary; 1998; Bobby & Peter Farrelly) anzuschließen, was angesichts der geschmacklosen Behindertenwitze von All About Steve nicht verwundert. Doch bei den Farrelly-Brüdern war das wenigstens mit Tempo und skurrilem Humor inszeniert. Hier ist es nur eine Qual für den Zuschauer. Ausführliche Besprechung auf BR-Online:


Ein ähnlicher Fall ist The Bounty Hunter (Der Kautions-Coup; 2010; Andy Tennant), der den Dauer-Macho Gerard Butler als Kopfgeldjäger mit Jennifer Aniston als Oberzicke zusammenbringt (letztere kann im Gegensatz zum Minimal-Actor Butler wenigstens durchaus witzig sein). Das ist ziemlich lustlos runtergekurbelte Routine, bietet aber immerhin ein paar gute Lacher, die sich allerdings an einer Hand abzählen lassen:


Keine RomCom, aber fast genauso nervtötend und langweilig, ist Kevin Smiths Versuch, eine Buddy-Komödie zu drehen und damit einen Mainstream-Erfolg zu landen: Cop-Out (2010) bestätigt meine Vermutung, dass Smith seit seinem wunderbaren Independent-Debüt Clerks (1994) mit jedem Film konstant schlechter wird (die einzige Ausnahme: der amüsante Chasing Amy von 1997). Lediglich Seann William Scott als alle Welt enervierender Dieb bringt etwas abstrusen Humor in das zotige Flickwerk:

Eine letzte Komödie, die ich besprochen habe, ist noch gar nicht angelaufen: Tandoori Love (2008; Oliver Paulus), ein deutschsprachiger Versuch, Bollywood-Film, RomCom und schweizerischen Heimatfilm zu kreuzen. Ob das funktioniert, kann jeder hier nachlesen:

Wer nun den Eindruck bekommt, ich würde nur Komödien verreißen, der kann sich gerne meine Review von Black Forest (2009; Gert Steinheimer) durchlesen, einem deutschen Horrorfilm (ja, tatsächlich!), der sich u.a. an Sam Raimis großartiger „Splatstick“-Groteske The Evil Dead (Tanz der Teufel; 1982) orientiert und nach gelungenem Anfang leider auf ganzer Linie scheitert. Einen besonderen Trash-Charme kann man dem lieblos hingeschluderten B-Filmchen allerdings nicht absprechen. Besonders die miesen Dialoge sorgen mehrfach für Erheiterung (persönliches Highlight: „Krass, `ne Bretterwand!“ – „Die hat jemand zugebrettert!“). Mitunter verpassen die Akteure auch mal ihren Einsatz und kommen mit den Zeilen durcheinander. Egal, Grimme-Preisträger Gert Steinheimer lässt derartige Sternstunden des deutschen Schauspiels einfach im Film. Review wie gehabt auf BR-Online:

Neben solchen Totalausfällen bietet der aktuelle Film natürlich auch die übliche Durchschnittsware des Mainstream-Actionkinos. Die Luc-Besson-Produktion From Paris With Love (2010) von Pierre Morel (Taken / 96 Hours; 2009) ist z.B. weiß Gott kein Highlight des Kinojahres, aber unterhält immerhin mit unverfrorener Dreistigkeit und lauter Action. Die weiße Überheblichkeit, die John Travoltas Figur (mit Glatze und Henriquatre-Bart äußerst albern zurechtgemacht) beständig auslebt, fällt wie der aggressive Sexismus des Films allerdings negativ ins Gewicht (unter Bessons Regisseuren bestätigt Morel damit nach dem tendenziösen Taken seinen Status als politisch eher rechts stehender Konfektionär):

Ein weiteres, eher comichaftes Spektakel ist die gerade angelaufene Iron Man-Fortsetzung von Fanboy Jon Favreau. Diese ist freilich auf wesentlich höherem Niveau angesiedelt als From Paris With Love und bietet durch die Bank bessere Schauspieler, Ausstattung und Action. Auffällig ist allerdings, dass mit Iron Man 2 ein weiteres aktuelles Produkt der Populärkultur auf eine Kalter-Krieg-Ikonografie zurückgreift und uns mit dem baddie „Whiplash“ (Mickey Rourke) eine Art Angstfantasie des kinderfressenden Russen präsentiert. Da der Film auch in der ehemaligen Sowjetunion sein Geld einspielen soll, übernimmt Scarlett Johansson die Rolle als attraktive und „gute“ russische Spionin, gewissermaßen das Antidot zur fiesen Russenkarikatur, und alles verbleibt in einer gewisse Mehrdeutigkeit. Abgesehen davon ist das Casting von Rourke jedoch auch der amüsanteste Besetzungscoup des Actionspektakels; haben doch mit Rourke und Robert Downey Jr. zwei ehemalige 1980er-Jahre-Stars erst kürzlich fulminante Comebacks hingelegt – der eine als Kassenmagnet in Blockbustern wie Iron Man (2008) und Sherlock Holmes (2009; Guy Ritchie), der andere in dem Arthausdrama The Wrestler (2008; Darren Aronofsky). Dankbarerweise ist der Film dann auch nicht in 3D gedreht, sondern, ganz altmodisch, normal „flach“. Wie bei vielen Fortsetzungen von Comic-Verfilmungen bzw. Superhelden-Filmen fällt Iron Man 2 hinter seinem Vorgänger zurück. Einen vergnüglichen Abend im Kino kann man sich mit dem Film aber durchaus machen:

Im weitesten Sinn ebenfalls der Fantasy zugehörig, ist Susanna Whites Kinderfilm Nanny McPhee and the Big Bang (Eine zauberhafte Nanny – Knall auf Fall in ein neues Abenteuer; 2010), der mir überraschend gut gefallen hat:

Die besten Filme der letzten Wochen fallen jedoch im weitesten Sinn ins (melo)dramatische Fach. Etwa Özcan Alpers einfühlsames – und durchaus politisch zu verstehendes – Spielfilmdebüt Sonbahar (Herbst / Autumn; 2008); eine türkisch-deutsche Koproduktion, die heute (13. Mai) mit vermutlich nur wenigen Kopien anläuft:

Wie ähnlich europäische Arthaus-Filme Zeit, Subjektivität, Landschaftsaufnahmen, Musik und eine bisweilen a-lineare Erzählweise für ihre Dramaturgie einsetzen, zeigt der Vergleich von Sonbahar mit Urszula Antoniaks meditativem Drama Nothing Personal (2009). Letzterer ist schon seit etwa vier Wochen in den deutschen Kinos zu sehen und ein definitiver Filmtipp!

Und zuletzt noch ein Grenzgänger zwischen den Genres, changierend zwischen Roadmovie, Gangsterfilm, Lovers-on-the-Run-Melo und Ethno-„Weltkino“: Cary Fukunagas Spielfilmdebüt Sin Nombre (2009), der wie lange schon kein US-amerikanischer Film mehr einen genauen Blick über die Landesgrenzen wagt – jenseits simpler Erklärungen und Stereotypisierungen, mit viel Zuneigung und Zärtlichkeit für seine Protagonisten:
alternativ auch auf der Seite der ARD:


Natürlich gab es in den letzten Wochen eine ganze Reihe weiterer, ebenfalls sehenswerter Neustarts. Stellvertretend sei hier nur einer angeführt, mein bisheriger Kandidat für den besten Film des laufenden Kinojahrs: Jacques Audiards meisterliches, episches Gangsterdrama Un Prophète (Ein Prophet; 2009). Trotz vielschichtiger filmhistorischer Bezüge auf klassische Gangsterfilme wie Scarface (1932; Howard Hawks) bis hin zu Francis Ford Coppolas The Godfather: Part II (Der Pate II; 1974) und Querverweisen auf Bert Brecht (Denn der Haifisch, der hat Zähne ...) gelingt Audiard ein wirklich originelles, eigenständiges Werk, das seinen Platz in der Filmgeschichte finden wird. Wie so oft scheint auch dieser Film nur mit nur sehr wenigen Kopien bundesweit zu laufen. Also, wer die Möglichkeit hat: Unbedingt ansehen!


Dienstag, 16. März 2010

Aktuelle Reviews: CASE 39 und DeUSYNLIGE



Zwei weitere aktuelle Filmkritiken von mir finden sich auf der Online-Seite von „Kino Kino“, dem Filmmagazin des Bayerischen Rundfunks. Zum einen meine Review von Christian Alvarts enttäuschendem Hollywood-Debüt Case 39 (Fall 39; 2009), den ich bereits in der Splatting Image ausführlich besprochen hatte. Das norwegische Drama DeUsynlige (Troubled Water; 2010) von Erik Poppe überrascht dagegen mit einer elaborierten Erzählstruktur und bietet trotz seines emotionalen Themas und der etwas überdeutlichen religiösen Metaphorik ein eher ruhiges Drama.

Mehr auf der Seite des BR:


Case 39 / Fall 39

DeUsynlige / Troubled Water

Donnerstag, 11. März 2010

Far from Heaven - Alejandro Amenábars ÁGORA


Ágora
(Agora – Die Säulen des Himmels) – E 2009 – Regie: Alejandro Amenábar – Buch: Alejandro Amenábar, Mateo Gil – Produktion: Fernando Bovaira, Álvaro Augustin – Ausführende Produzenten: Simón de Santiago, Jaime Ortiz de Artiñano – Kamera: Xavi Giménez, AEC – Schnitt: Nacho Ruíz Capillas – Ton: Glenn Freemantle – Kostüme: Gabriella Pescucci – Ausstattung: Guy Hendrix Dyas – Musik: Dario Marianelli – Darsteller/innen: Rachel Weisz (Hypatia), Max Minghella (Davus), Oscar Isaac (Orestes), Michael Lonsdale (Theon), Rupert Evans (Synosius), Homayoun Ershadi (Aspasius), Sammy Samir (Kyrill), Richard Durden (Olympius), Omar Mostafa (Isidoru), Oshri Cohen (Medorus), Yousef Sweid (Peter) u.a. – FSK: 12 – Länge: 126 min. – Erstaufführung Spanien: 09.10.2009, deutscher Kinostart: 11.03.2009


Das römisch verwaltete Alexandria im Jahr 391 unserer Zeitrechnung. Die Philosophentochter Hypatia (Rachel Weisz) lehrt an der berühmten Bibliothek der nordafrikanischen Metropole Mathematik und Astronomie. Während sie sich der Erforschung des Sonnensystems widmet, nehmen die religiösen Konflikte zwischen den erstarkenden Christen sowie den Juden und den Anhängern des graeco-römischen Polytheismus der Stadt zu. Schließlich kommt es zum blutigen Glaubenskrieg, dem sich auch die Philosophin nicht entziehen kann.


Alejandro Amenábars Ágora erzählt unter der konventionellen Fassade des Historienfilms eine grimmige Parabel über religiösen Wahn und Intoleranz. Und dabei geht dieser – wohlgemerkt aus dem katholischen Spanien stammende und dort äußerst erfolgreiche – Film überraschend gnadenlos mit dem frühen Christentum ins Gericht. Die Christen und ihre militante Bruderschaft der Parabolani treten von Anfang an als Aggressoren auf, denen jedes Mittel recht ist, die Konkurrenz auszuschalten. Zunächst geht es mit Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Brandschatzung, Plünderung und Steinigung gegen den Vielgötterglauben und seine Priester. Danach ist die monotheistische Konkurrenz dran: das Judentum. Intoleranz und Hass sind allumfassend und insbesondere Ashraf Barhoms Verkörperung des Mönchs Ammonius macht den Wahn fast physisch greifbar: der Mann brennt! Diejenigen, die noch halbwegs klar im Kopf sind, sind reine Machiavellisten, denen es für den Machtgewinn nur recht ist, wenn die Agora, der traditionelle Versammlungsplatz im Stadtzentrum, im Blut versinkt. Mit den Armen und Hungernden das Brot teilen: ein Mittel, die eigene Anhängerschaft zu erweitern und die Truppenstärke zu vergrößern. Zwangschristianisierung: egal, ob subtil oder mit dem Schwert in der Hand, Hauptsache, die Christenheit wächst. Textexegese der heiligen Schrift: Geschenkt, solange man Passagen findet, die die eigene Position stützen. Und wenn vereinzelt Anhänger auf Vergebung und Toleranz verweisen: Wer kann sich anmaßen, auf einer Stufe mit Jesus handeln zu wollen? Nicht einmal antijüdische Pogrome und die Genese des christlichen Antisemitismus spart Amenábar aus. Am Ende des Films muss sogar die Protagonistin dran glauben. So weit, so unversöhnlich.



Nur selten streben Antikfilme eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der von ihnen porträtierten Mythologie oder Geschichte an. Georg Seeßlen hat treffend beschrieben, wie in den US-Antikfilmen der 1950er Jahre die vorchristliche Welt als „ein Reich der großen Schicksale und einer glücklich überwundenen, doch nach wie vor faszinierenden Einheit von privatem und öffentlichem, politischem und religiösem, kulturellem und mythischem Leben“ fungierte. In diesen Filmen wurde der Diskurs von unterschwelliger Bewunderung für die vermeintliche "darwinistisch-technokratische Herrschaft antiker Weltreiche" (Seeßlen) und der eigenen kulturellen Identität mit dem puritanisch geprägten Christentum behandelt. Für neuere europäische Monumentalfilme wie Ágora gilt ähnliches, auch wenn sich die Koordinaten verschoben haben. Zwar zeichnet der aufwändig produzierte Antikfilm ein vermutlich gar nicht mal so unrealistisches Bild des zu dieser Zeit noch jungen und aggressiv expandierenden Christentums. Andererseits ist mit der Geschichte vom Aufstieg einer neuen monotheistischen Religion offensichtlich eine Parabel zum gegenwärtigen Islam intendiert. Das mag neben der exzellenten Ausstattung und den vorzüglichen Bauten erklären, warum der Film in Spanien mit mehr als drei Millionen Zuschauern so erfolgreich war. Zugleich ist Ágora für einen gegenwärtigen europäischen Blockbuster – laut Regisseur mit einem Budget von 50 Millionen Euro realisiert und wie Luc Bessons Produktionen mit internationalen Schauspielern besetzt und in Englisch gedreht – äußerst kritisch und pessimistisch gegenüber dem vielbeschworenen „christlich-abendländischen“ Charakter Europas. Seine Widersprüche löst Ágora nicht auf, und gerade das ist es, was ihn zu einem gelungenen Film macht.

Der deutsche Verleiher Tobis dagegen lässt in seinem Presseheft Folgendes über Amenábars Film verlauten:

„Bei ihren Schülern ist die selbstbewusste Wissenschaftlerin [Hypatia] sehr beliebt, ihre männlichen Kollegen aber beobachten sie mit Argwohn. Nicht nur weil sie eine Frau ist, sondern auch weil sie äußerst moderne Thesen vertritt. Mit wachsender Leidenschaft widmet sich Hypatia den elementaren Fragen des Sonnensystems – und das lange vor Kopernikus und Galileo! Mit ihren Erkenntnissen erntet sie jedoch nicht nur Respekt und Anerkennung, sondern zieht auch den Groll der erstarkenden Christen auf sich. Als es in der altägyptischen Weltstadt zwischen Heiden und Christentum zum Glaubenskrieg kommt, gerät Hypatia zwischen die Fronten. Und auch privat ist sie hin- und hergerissen zwischen dem Sklaven Davus [...] und ihrem noblen Schüler Orestes [...]. Doch statt sich in die schützenden Arme der Liebe zu retten, stürzt sich Hypatia in ihren ganz persönlichen Glaubenskrieg und kämpft für das einzig gültige Prinzip ihrer Lehre: das Ideal der Wahrheit!“

Mit dieser Kurzsynopsis, die sich wie eine Historienschmonzette Eichinger’scher Prägung liest, versucht der Verleih, seinen Film dem Publikum als etwas anders unterzujubeln, als er ist. Auffällig ist, dass der Pressetext nach Kräften versucht, die politische Dimension von Amenábars durchaus komplexen Film zu eliminieren und ihn zur Emanzipationsgeschichte umzudeuten. Doch tatsächlich bekämpfen die christlichen Eiferer in Ágora die junge Wissenschaftlerin weniger aufgrund ihrer Weiblichkeit, sondern vor allem aus Machtkalkül, um indirekt einen anderen Mann zu treffen, nämlich Hypatias Beschützer Orestes (Oscar Isaac) (man könnte also sagen: Sie sind so sehr Sexisten, dass sie nicht einmal gewillt sind, eine weibliche Wissenschaftlerin als Bedrohung anzuerkennen). Und wenn Amenábar als Konzession ans große Publikum auch eine angedeutete Ménage-à-trois zwischen Hypatia, dem Sklaven Davus (Max Minghella) und dem Adeligen Orestes in seine Geschichte einbaut und so die unvermeidliche Double-plot-Konvention des Mainstreamkinos erfüllt, dann steht diese Beziehung im Film selbst doch eher im Hintergrund (man könnte Hypatia hier ebenso gut als asexuell betrachten). In der Ankündigung des Verleihs wird daraus allerdings die einem (schlechten) Groschenroman entsprungene Wahl zwischen Wahrheit und Liebe und die antike Hypatia zur moderne Karrierefrau; eine zweite Päpstin à la Sönke Wortmann gar, die sich die Liebe versagt, um den „persönlichen Glaubenskrieg“ zu wählen. Hinzu kommt der deutsche Untertitel „Die Säulen des Himmels“, der dreist an Ken Folletts deftige Geschichtsschwarte Die Säulen der Erde angelehnt ist.
Diejenigen, die angesichts solcher Versprechen dem Verleih auf den Leim gehen, dürften von Ágora ziemlich enttäuscht werden. Wer sich von einer solchen Antiwerbung nicht in die Irre führen lässt, den erwartet ein durchaus anspruchsvoller europäischer Historienfilm, der sich beherzt zwischen die Stühle setzt. Eine mittelalterliche Historien-Soap wie Die Päpstin bleibt uns glücklicherweise erspart.

Freitag, 5. März 2010

Aktuelle Reviews: Clint Eastwoods INVICTUS und Shane Ackers #9



Zwei aktuelle Filmkritiken von mir finden sich auf der Seite des Bayerischen Rundfunks. Die eine Besprechung widmet sich Clint Eastwoods aktuellem Film Invictus (Invictus – Unbezwungen; 2009), vom Altmeister gewohnt klassisch inszeniert und mit einem überragenden Morgan Freeman besetzt. Der Science-Fiction-Animationsfilm 9 (#9; 2009) von Shane Acker ist dagegen eher durchwachsen und enttäuscht nach einem gelungenen Auftakt.

Mehr auf der Seite des BR:


Link Invictus


Link #9

Sonntag, 28. Februar 2010

Tony Anthony is back!



Unter den Protagonisten des Western all’italiana ist der von Tony Anthony verkörperte „Stranger“ der wohl ungewöhnlichste Serienheld: ein eher träger Loner, einzig angetrieben von seiner Geldgier; feige und hinterhältig, meist aber das Opfer ausgewalzter Quälereien und Demütigungen; am Ende zudem immer derjenige, der über den Tisch gezogen wird. Kurz: ein veritabler Antiheld, fast schon eine Comicfigur, mit welcher der Western als mythische Heldenerzählung in Europa vollends auf den Kopf gestellt wurde.


Bevor es den 1937 in Clarksburg, West Virginia als Roger Pettito geborenen Schauspieler zum Italowestern verschlug, lernte Anthony an der renommierten Schauspielschule The Actors’ Studio in New York sein Handwerk und stand u.a. für die feministische Filmemacherin und Fellini-Schülerin Lina Wertmüller vor der Kamera. Zwischen 1967 und 1981 trat er dann in insgesamt sechs Italowestern auf, die jeder auf seine Weise für das Genre bedeutend waren. Anthonys erste zwei Italowestern, der minimalistische Un dollaro tra i denti (Ein Dollar zwischen den Zähnen; 1967) und der höchst ironische Un uomo, un cavallo, una pistola (Western Jack; 1967), etablierten unter der Regie von Luigi Vanzi den antisozialen, faulen „Helden“-Typus, dem Anthony über seine Karriere treu bleiben sollte. Mit dem überwiegend in Japan gedrehten Lo straniero di silenzio aka The Silent Stranger (Der Schrecken von Kung-Fu; 1968) legte das Team im folgenden Jahr die erste italienisch-asiatische Westernfusion vor und transformierte Anthonys namenlosen Fremden nach Japan, wo er im Reich der Zeichen (Roland Barthes) an eben seiner Unfähigkeit scheitern sollte, die fremden Zeichen zu lesen. In Baldis drei Jahre später entstandener, ebenso aufwändiger wie trashiger Zatôichi-Variation Blindman aka Il cieco (Blindman, der Vollstrecker) trat Anthony neben Ex-Beatle Ringo Starr (!) als blinder (!) Revolverheld auf. 1981 übernahm er dann die Hauptrolle in Baldis bizarrem Genre-Crossover Get Mean (Time Breaker; 1981), das irgendwo zwischen Wikinger-Film, Twilight Zone, Peplum, Italowestern und Fantasy-Trash angesiedelt war und etwa zehn Jahre später zur offensichtlichen Inspirationsquelle für Sam Raimis Army of Darkness (1992) werden sollte. Anthonys letzter Western ist ebenfalls ein Kuriosum, denn Comin’ at Ya (Alles fliegt dir um die Ohren; 1981) ist bis heute der einzige 3-D-Italowestern. In den USA wurde der 1981 erstaufgeführte Western zum Auslöser einer neuen Welle an 3-D-Filmen.

Angesichts des gegenwärtigen Booms an 3-D-Filmen hat sich Anthony entschlossen, seinen Klassiker nun wieder auf die große Leinwand zu bringen. Auf der neu eingerichteten Homepage des Films wird eine für 700 000 Dollar in digitales 3-D transformierte und restaurierte Fassung von Comin’ at Ya als „Leaner & Meaner“-Cut für einen Kinoneustart angekündigt. Hier findet sich auch ein englisches Interview mit dem Darsteller. Wenn alles gut läuft, dann führe ich demnächst auch ein Interview mit Anthony. Bald mehr darüber ...

Oben: Production Still der Dreharbeiten von Comin’ at Ya

Freitag, 8. Januar 2010

Thumbs up / Thumbs down: Jahresrückblick 2009



Verglichen mit 2008 bot das zurückliegende Jahr durchaus Grund für Hoffnung. Unter anderem gab es neue Filme von Quentin Tarantino, Sam Raimi, James Cameron, Kathryn Bigelow, Michael Mann, Darren Aronofsky und Steven Soderbergh. Viele dieser Filme konnten die hohen Erwartungen halten oder markierten eine überraschende Rückkehr zu früherer Form. Nur Scorseses Shutter Island wurde uns vorenthalten – das von der Wirtschaftskrise angeschlagene Studio hat den Kinostart der Dennis-Lehane-Verfilmung verschoben, eine nicht ganz nachvollziehbare Sparmaßnahme. 2009 war nicht nur in dieser Hinsicht das Jahr der Wirtschaftskrise: Michael Mann und Tom Tykwer haben mit ihren Filmen Public Enemies und The International im fiktiven Rahmen wohl am deutlichsten auf das bestimmende Thema in Nachrichten und Zeitungen verwiesen. Aber auch Rückgriffe auf den klassischen Politthriller wie State of Play, europäische Gangsterfilme wie der ausgezeichnete Mesrine-Zweiteiler von Jean-François Richet und Independentfilme von Nicolas Winding Refn (eiteiler sche Gangsterfilme wie der ausgezeichnete Bronson) und Darren Aronofsky (The Wrestler) belegen zusammen mit Kathryn Bigelows beeindruckendem Irakkriegsdrama The Hurt Locker ein neues Interesse an düsteren Charakterstudien. Im Folgenden meine Tops und Flops 2009, je nach Laune mit kurzen oder weniger kurzen Kommentaren versehen.



The Good:


Inglourious Basterds (2009; Quentin Tarantino) – Irgendjemand hat einmal gesagt, ein guter Film bräuchte mindestens fünf movie moments, diese schwer greifbaren Momente, Bilder oder Szenen, die aus einem Film hervorstechen, uns verzaubern und Unterhaltungskino zu dem magischen Erlebnis machen, das es im Idealfall sein kann. Inglourious Basterds, Tarantinos Ausflug in den dreckigen Kriegsfilm, ist ein Werk voller solcher movie moments geworden. Da wären z.B. die unerhört gute Eröffnungssequenz oder das Verhör, in dem Christoph Walz nebenher einen Strudel, nun ja, zerstört. Brillant sind auch die 40 Minuten in einer französischen Kellertaverne, in denen die „Basterds“ Kinderspielchen mit besoffenen Nazis spielen müssen, bevor alles innerhalb weniger Sekunden in Fetzen geschossen wird. Unvergessen auch die unverschämte kurze Rückblende, in der Hugo Stiglitz (Til Schweiger) wie in einem der schmierigen Men’s Adventure-Magazinen der 1950er Jahre ausgepeitscht wird oder die Einstellung, wenn sich Shosanna zu David Bowies „Putting out the Fire (with Gasoline)“ schminkt und Melanie Laurent dabei wie die junge Nastassja Kinski in Schraders Cat People (1982) aussieht und, und, und. Schlicht der Film des Jahres! Und Tarantinos bester bislang. Wie sagt Christoph Walz’ Hans Landa so schön: „That’s a Bingo!“

Drag Me to Hell (2009; Sam Raimi) – Endlich mal wieder ein guter Horrorfilm, der trotz seiner PG-13-Freigabe alles bietet, was man sich von einer filmischen Achterbahn erwartet. Und jetzt bitte eine dritte Evil Dead-Fortsetzung – unrated, versteht sich!

Avatar (2009; James Cameron) – Ice Age – Dawn of the Dinosaurs (2009; Carlos Saldanha und Mike Thurmeier) war mein erster 3D-Film, seit Hollywood wieder versucht, uns die neue alte Innovation als Attraktionskino unterzuschieben. Tatsächlich waren die Effekte dort durchaus überzeugend. Aber erst Avatar zeigt, was man alles mit der zusätzlichen Dimension anfangen kann. Eine überzeugende Dramaturgie sieht vielleicht anders aus, aber als visionärer Bilderrausch ist Camerons Comeback ein Meisterwerk. Punkt.

Harry Brown (2009; Daniel Barber) – Irgendjemand hat für Eastwoods Gran Torino (2008) den Begriff „Rentner-Action“ geprägt. Das war irgendwie richtig und falsch zugleich. Auch Harry Brown wird man dieses Prädikat wohl anhängen, wenn er in Deutschland endlich in die Kinos kommt. Dabei wird in Filmen wie Harry Brown und Gran Torino Action, und damit notwendigerweise Bewegung, nur in wenigen Szenen direkt in Szene gesetzt. Vielmehr geht es hier um Stillstand, um verstockte Charaktere, die von alten Stars gespielt werden, mittlerweile weit in ihren 70ern (Caine ist 76, Eastwood 79). Die Protagonisten, die beide in Gran Torino und Harry Brown geben, sind alte, müde Männer, die sich meilenweit von der sie umgebenden Gesellschaft entfernt haben. Und im Gegensatz zu den modischen Rachefantasien der letzten Jahre sind diese Filme wirklich düster.

Public Enemies (2009; Michael Mann) – Endlich wieder ein richtig guter Michael-Mann-Film. Cadrage und Einstellungsgrößen wirken durch das Spiel mit Vorder- und Hintergrund und die übernahen, detailreichen Großaufnahmen wie ein bewusster Rückgriff auf die 1960er Jahre und die Techniscope-Bilder des italienischen Genrekinos. Die Close-ups von Johnny Depp jedenfalls hätte Sergio Leone selbst nicht besser eingerichtet haben können. Der digitale Look des Films bringt zusätzlich eine geradezu surreale Note ein. Hervorragend! Ein Ärgernis ist allerdings die deutsche Synchronfassung, die es sogar schafft, aus dem FBI das „Zentrale Büro für Ermittlungen“ zu machen.

State of Play (2009; Kevin Macdonald) – Ein bewusster Rückgriff auf den Politthriller der paranoiden 1960/70er Jahre. Zwar kein Vergleich mit Alan J. Pakulas und Sydney Pollacks Klassikern, aber sauber gearbeitetes Hollywood-Kino, an dem man kaum etwas aussetzen kann – erfreulich.

The Hangover (2009; Todd Phillips) – The Hangover war wirklich eine Überraschung. Todd Phillips, der zuvor u.a. den grässlichen Starsky & Hutch (2004) inszeniert hat, gelingt tatsächlich das Kunststück, eine Komödie für die Thirtysomethings zu inszenieren, die weit über die üblichen Zoten hinausgeht. Brachialhumor bietet der Film natürlich trotzdem. Was auch viel Spaß macht.

The International (2009; Tom Tykwer) – Vielleicht Tykwers bester Film bislang. Ehrlich. Eine ausführliche Review findet sich hier.

The Taking of Pelham 1 2 3 (Die Entführung der U-Bahn Pelham 1 2 3; 2009; Tony Scott) –Immer, wenn ich den Glauben an Tony Scott verliere (und das passiert häufig), legt der Brite wieder einen lupenreinen Genrefilm vor, der zwar nicht das Rad neu erfindet, aber auf prollig-originelle Art seinen Zweck erfüllt. Das ist gewiss kein Kunstkino, aber besser als einiges, was Hollywood dieses Jahr herausgebracht hat. Das Original von 1974 mit dem großartig bärbeißigen Walter Matthau bleibt dennoch der bessere Film.

Il Divo (2008; Paolo Sorrentino) – Il Divo ist vermutlich neben Das Weiße Band der boshafteste Film des Jahres. Sorrentino erzählt die Lebensgeschichte Giulio Andreottis, der an 33 der 50 italienischen Regierungen beteiligt war, lange vor Berlusconi sieben Mal den Posten des italienischen Ministerpräsidenten bekleidete und hier, von Toni Servillo gespielt, ein wenig wie ein hermaphroditischer Zwerg wirkt. Dass Il Divo im Übrigen „Der Göttliche“ heißt, markiert bereits die Fallhöhe. Alleine die Eröffnungsmontage, die von einem House-Song begleitet („Toop Toop“ von Cassius) die bekanntesten Mafia-Morde en detail nachstellt und dazu über Schrifttafeln über Brigate Rosse, die Aldo-Moro-Entführung und den Mord an Giovanni Falcone informiert, ist ein Meisterwerk in sich. Ein eiskalter, bitterer Film, der manchmal wie eine Oper in der Irrenanstalt wirkt. Einer der besten des Jahres.

JCVD (2008; Mabrouk El Mechri) – The Muscles from Brussels in einem selbstreflexiven Film! Alles beginnt mit einer großartigen, ewig langen Plansequenz, die jedes Klischee des 80er-Jahre-Actionfilms aufgreift, um dann mit der totalen Ernüchterung zu enden. Und weil die good old days lange schon vorbei sind, weint Jean-Claude Van Damme später sogar direkt in die Kamera. Er kann wirklich schauspielern!

Che – Part i / Che – Part ii (2008; Stephen Soderbergh) – Soderberghs episches, zweiteiliges Biopic ist mehr Kriegsfilm als Politdrama. Aber damit umgeht der American Independent auch geschickt die Gefahr, Guevara zu verkitschen. Ein sehenswerter Bilderbogen, der in seiner größenwahnsinnigen Herangehensweise eher wie ein Film aus den 1970er Jahren wirkt.

Mesrine - L'ennemi public n° 1 / Mesrine - L'instinct de mort (2008; Jean-François Richet) – Noch ein Dyptichon und noch ein Film, der ästhetisch auf die 1960er und 70er Jahre zurückgreift, die Zeit, als das Kino noch wilde, verrückte Filme en masse vorweisen konnte. Mesrine ist eine rasante Gangsterballade über den französischen Staatsfeind Nr., 1 Jacques Mesrine, perfekt besetzt mit Frankreichs Oberrampensau Vincent Cassell. Der beste europäische Genrefilm des Jahres. Ausgesprochen erfrischend.

Das Weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009; Michael Haneke) – Über Michael Haneke wird dagegen wohl kaum jemand sagen, seine Filme seinen „erfrischend“. Oft produziert Haneke Kopfkino oder Konzeptkunst. Das Weiße Band dagegen hat mich seit Langem wieder für den Regisseur eingenommen, der hier einen dörflichen Mikrokosmos in der Vorkriegszeit erbarmungslos seziert. Das ist nicht unbedingt humanistisches Kino, aber im nahezu ausverkauften Kino herrschte danach einfach nur noch Stille. In Schwarzweiß ist der Film übrigens auch gedreht; etwas, das man heute leider viel zu selten zu sehen bekommt.

OSS 117: Rio ne répond plus (OSS 117 – Lost in Rio; 2009; Michel Hazanavicius) – Auch der zweite der neuen OSS 117-Filme unterhält bestens. Schon die Idee, den erzdummen, oberchauvinistischen, selbstverliebten und rassistischen Anti-Bond auf den Nahostkonflikt anzusetzen, ist großartig, und die Umsetzung sprüht nur so von antifranzösischem Witz. Dass das Ganze von einem Franzosen inszeniert wird und in Frankreich ein begeistertes Publikum findet, belegt die Fähigkeit der Grande Nation, über sich selbst zu lachen.

The Hurt Locker (2009; Kathryn Bigelow) – Trotz einiger Handkamerasperenzchen und überzogenem Testosterongehabe gelingt Bigelow mit The Hurt Locker nicht nur die Rückkehr zur alten Form, sondern auch der beste Film zu Irakkrieg bislang. Intensives, unmittelbares Actionkino mit Charakteren statt Stereotypen.

Bronson (2009; Nicolas Winding Refn) – Refn ist ebenfalls ein alter Bekannter, der u.a. die hervorragende Pusher-Trilogie und Bleeder vorgelegt hat. Im Vergleich dazu ist Bronson schwerere Kost, belegt aber ein weiteres Mal, dass Refn ein Regisseur ist, dessen Karriere man beachten sollte. Eine ausführliche Besprechung findet sich hier. Auf Valhalla Rising, Refns Wikingerfilm, bin ich schon sehr gespannt.

The Wrestler (2009; Darren Aronofsky) – Auch Darren Aronofsky liefert in seinem berührenden und zutiefst menschlichen Drama wie gewohnt Qualität ab. Kritik findet sich hier.

Looking for Eric (2009; Ken Loach) – Dass Ken Loach, der Regisseur von Ladybird Ladybird und Kes, einmal ein Feelgood-Movie inszenieren würde, hätte ich mir nicht träumen lassen.

Milk (2008; Gus van Sant) – Sean Penn liefert die Schauspielleistung des Jahres ab und beweist, dass er zusammen mit Christian Bale der männliche Schauspieler dieser Generation ist.

Chugyeogja (The Chaser; 2008; Hong-jin Na) – Das Südkoreanische Kino mag sich nach den Höhenflügen der letzten Dekade in einer Krise zu befinden. Solange es jedoch so ausgezeichnete Films Noirs wie diesen vorweisen kann, ist die Talsohle noch weit entfernt.




The In-Between:


Gutes Mittelfeld: Filme, die überraschend besser waren, als angenommen oder die eigentlich gut bis sehr gut waren, denen aber doch irgendetwas fehlte:


Watchmen (2009; Zack Snyder): Ein wahrhaft ambitionierter Film, dem während des Scheiterns dennoch einige ausgezeichnete Momente gelingen. Die Anfangsmontage, in der die Geschichte von den 1950er Jahren ausgehend umgeschrieben wird, war gewiss einer der Momente des Kinojahres.

Zombieland (2009; Ruben Fleischer) – Zombieland überzeugt als Zwitter aus blutigem Horrorfilm und kenntnisreicher Parodie – und zwar im Vergleich zu dem albernen Shaun of the Dead (2004) um Längen. Woody Harrelson ist als stoischer Redneck auf der Suche nach Cremetörtchen sowieso nicht zu schlagen. Der einzige Schwachpunkt ist ähnlich wie in The Hangover ein gezwungener Gastauftritt. Wie der Cameo von Mike Tyson in Phillips’ Film nimmt der Gastauftritt von Bill Murray (der nur noch als Zitat seiner selbst aufzutreten scheint), zuviel Raum ein, führt zu nichts und nimmt das Tempo aus dem Film. Schade.

13 Semester (2009; Frieder Wittich): Überraschenderweise war 2009 ein gutes Komödienjahr. Neben Fatih Akins melancholischem Soul Kitchen und dem großartigen The Hangover beweist 13 Semester nicht nur Gespür für Timing, sondern auch viel aufrichtige Sympathie für seine Figuren. Das kommt gänzlich ohne die Neigung deutscher Komödien zum Denunziatorischen aus (vergleiche etwa Bully Herbigs und Til Schweigers verklemmte Schwulenwitze). Ansonsten nur ein Satz: „The early bird catches the worm!“

Soul Kitchen (2009, Fatih Akin): Fatih Akin dagegen überspannt mit Soul Kitchen den Bogen etwas. Die durch ein kulinarisches Aphrodisiakum ausgelöste Orgie hätte es z.B. wirklich nicht gebraucht. Aber davor bemerkt man doch erfreut, dass sich hier endlich mal jemand in Deutschland von der traditionellen Elendskomödie Italiens inspirieren lässt, zudem das Lokalkolorit Hamburgs kongenial einzusetzen weiß (ein Happy End musste leider doch sein). Und wer schon einmal in einer Kneipe oder der Gastronomie gearbeitet hat, wird seinen Spaß haben.

Gomorra (2008; Matteo Garrone) – Wie in Il Divo spielt Toni Servillo eine Hauptrolle und doch erweist sich Matteo Garrones Film gegenüber dem geradezu postmodernen Il Divo als sehr viel nüchterner. Das liegt insbesondere an seinem semi-dokumentarischen Gestus. Die episodischen Geschichten über kleine und mittelgroße Mafiosi, die ihre Verbrechen als rationales Business organisieren, zermürbt und erschüttert. Doch so wichtig der Film auch sein mag, Sorrentinos Zugang zu dem Thema gefiel mir wesentlich besser.

Fu Chou / Vengeance (2009; Johnnie To) – Johnny Hallyday goes East: Einen französischen Chef, in einem früheren Leben Profikiller, verschlägt es nach Macao, wo er wieder zur Waffe greifen muss – aus Rache versteht sich. Wie üblich bei To kreist alles um Essen, Töten und die meditative Ruhe vor dem Sturm. Nichts wirklich Neues, aber kein Jahr wäre wirklich komplett ohne einen Film des asiatischen Action-auteur.

A Serious Man (2009; Joel & Ethan Coen): Der Prolog ist herrlich verschroben und boshaft, aber die eigentlich Geschichte des Films hat mich dann doch eher kalt gelassen. Tatsächlich kann ich mit den Coens in den letzten Jahren immer weniger anfangen, zumindest längst nicht mehr soviel wie früher. Vielleicht liegt das daran, dass das Coen-Universum nur noch um die gleichen Pole kreist und sich die Masche nach mehr als einem Dutzend Filmen deutlich abgenutzt hat. Hinzu kommt, dass die letzten Filme oft sehr grausam zu ihren Figuren waren. Der Coen-Protagonist der letzten Jahre (in Burn after Reading, No Country for Old Men und A Serious Man) ist meist ein Trottel, der sich durch sein Handeln als aussichtsreicher Anwärter auf den Darwin Award für besonders blödes selbstverschuldetes Ausscheiden aus dem menschlichen Genpool qualifiziert. Es sind Jammerlappen, die in ihrer kleingeistigen Trübheit verdämmern und von den allmächtigen Drehbuchautoren je nach Lust und Laune mittels Mord, Krebserkrankung oder als Folge eines dummen Zufalls unsanft aus der Storyline befördert werden. Trotzdem sehe ich mir jeden neuen Film des boshaften Brüderpaares an und letztlich sind sie doch immer einen Blick wert, manchmal auch einen zweiten oder dritten (wie im Fall von No Country for Old Men).

Doubt (Glaubensfrage; 2008; John Patrick Shanley) – trotz des wie immer hervorragenden Philip Seymoure Hoffman ein sehr puritanischer Film.

Crank 2 – High Voltage (2009; Mark Neveldine und Brian Taylor): Der zweite Crank-Film ist sehr, sehr geschmacklos, wirkt mitunter auch gezwungen in seiner Neigung zur Grenzüberschreitung. Kurzweilig ist das Ganze aber schon.

Jennifer’s Body (2009; Karyn Kusama): Ja, was war denn das? Zwischen Adoleszenzdrama und Exploitationfilm angesiedelt, ist das ein merkwürdiger kleiner Bastard geworden, der nicht ganz die hohen Erwartungen einlöst, sich aber als innovativer erweist als das x-te Remake eines altbekannten Stoffs.

Män som hatar kvinnor (Verblendung; 2009; Niels Arden Oplev): Die Verfilmung des ersten Romans von Stieg Larssons Millennium-Trilogie ist durchaus gelungen. Aber irgendwie blieb doch ein schaler Geschmack zurück. Lag’s an der Fernsehoptik des überlangen Streifens? Oder an der übermäßigen Gewalt gegen Frauen? Vielleicht auch am Serienmörderplot, der hier – im Gegensatz zum Roman – arg überzogen wirkt? Vielleicht. Andererseits ist kompetent gemachtes europäisches Genrekino immer zu begrüßen. Mal sehen, was der zweite und dritte Teil bieten.

12 Meter ohne Kopf (2009; Sven Taddicken): À propos europäischer Genrefilm: einen deutschen Piratenfilm gab es 2009 auch. Leider war das Ergebnis etwas durchwachsen und wollte zuviel gleichzeitig. Aber immerhin ist 12 Meter ohne Kopf sehr gut ausgestattet, ansprechend gefilmt, mit guten Schauspielern besetzt und durchaus unterhaltsam. Eine Kritik dazu findet sich hier: Link.




The Neither/Nor: Des Weiteren (in keiner besonderen Reihenfolge) Mittelmäßiges, Vermurkstes, Durchwachsenes:


Felon (2008; Ric Roman Waugh); Killshot (2009; John Madden); RocknRolla (2008; Guy Ritchie); The Strangers (2008; Bryan Bertino); Transporter 3 (2009; Olivier Magaton); W. (2008; Oliver Stone); Beyond a Reasonable Doubt (2009; Peter Hyams); In the Electric Mist (2008; Bertrand Tavernier); What doesn't kill you (2008; Brian Goodman); Joheunnom nabbeunnom isanghannom (The Good, The Bad, The Weird; 2008; Ji-woon Kim); The Escapist (2008; Rupert Wyatt); Clubbed (2008; Neil Thompson); 9 to 5 - Days in Porn (2008; Jens Hoffmann) – Alle nicht ganz schlecht, nicht richtig gut.



The Bad, the Boring, and the Disgusting:


Vom unteren Mittelfeld bis zum Bodensatz: Vielversprechendes, das letztlich doch enttäuschte; insgesamt misslungene Filme mit bestenfalls guten Momenten; Konfektionsware von Regisseuren, denen nichts Neues mehr einfällt – und ganz einfach schlechte Filme:


Horsemen (2009; Jonas Åkerlund): Schrecklich klischeehaft, vorhersehbar und konstruiert. Ästhetisch zudem eine 180-Grad-Kehrtwende gegenüber dem rasanten Erstling Spun von 2003.

Angels & Demons (Illuminati; 2009; Ron Howard): Selten habe ich mich so gelangweilt im Kino, von den blödsinnigen Verschwörungstheorien gar nicht zu reden. Einige schöne Aufnahmen, aber alles in allem schrecklicher Mist.

Antichrist (2009; Lars von Trier): Die Eingangssequenz ist weiß Gott brillant gefilmt und einer der eindruckvollsten Momente des Kinojahres 2009. Von da ab ging es leider nur noch bergab, bis in die Untiefen des prätentiösen Pseudo-Kunstkinos, inklusive der Hexenverbrennung am Ende. Aber vermutlich hat Trier, der alte Misogynist, das öffentliche Bild von sich als Frauenfeind nur ironisieren wollen. Als ich am Ende das Kino verließ, fühlte ich mich jedenfalls ziemlich verarscht.

Brüno (2009; Larry Charles): Im Gegensatz zu dem durchaus lustigen Borat hat sich die Methode Sacha Baron Cohen ausgereizt. Wenn am Ende die Popwelt inklusive Elton John aufmarschiert und ein fröhliches Liedchen gegen Homophobie trällert, zeigt sich, wie handzahm und kalkuliert das Ganze geworden ist. Dass sich diesmal im Gegensatz zum Vorgänger niemand wirklich aufregt, verwundert kaum. Subversion sieht anders aus.

Case 39 (2009; Christian Alvart): Der ehemalige Herausgeber der X-Tro versucht sich am Genrekino. Das funktioniert mal besser, mal schlechter. Case 39 ist leider ein Beispiel für letztere Kategorie. Eine ausführliche Besprechung von mir findet sich in der Splatting Image oder hier.

Coraline (2009; Henry Selick): Nach einem vielversprechenden Anfang, macht sich Ernüchterung breit. Irgendwie … indifferent.

Miracle at St. Anna (2008; Spike Lee): Ich bin ein erklärter Spike-Lee-Fan, aber den Film konnte ich einfach nicht zu Ende sehen. Prätentiös, historisch inakkurat, kitschig. Vielleicht gebe ich ihm irgendwann noch eine Chance.

Religulous (2008; Larry Charles): Eine „Doku“ über den „aufklärerischen“ Commedian Bill Maher, der genauso predigt, wie die religiösen Spinner, denen er vorhält, dass sie religiöse Spinner sind. As funny as kicking a dead dog.

Pride and Glory (2008; Gavin O'Connor): So viele gute Schauspieler, so viele Klischees.

Terminator Salvation (2009; McG): „McG“, der bereits die unerträglichen Charlie’s Angels-Filme verbrochen hat, auf das Terminator-Franchise loszulassen, ist, gelinde gesagt, eine überraschende Wahl. Daran gemessen macht er seinen Job fast schon wieder gut, wobei einige der Actionsequenzen ansprechend inszeniert sind. Ansonsten aber wartet der Film mit ausgesprochen hirnrissigen Dialogen, gigantischen Plot-Löchern und Logikfehlern auf. Selbst Christian Bale spielt erschreckend schlecht und starrt vor allem griesgrämig vor sich hin. Vermutlich die schlechteste High Budget-Produktion des Jahres.

Gamer (2009; Mark Neveldine und Brian Taylor): Jo mei, Jungskino halt. Höchstenfalls die wirklich düstere Zukunftsfantasie fällt etwas aus dem Rahmen. Sonst aber nicht Fisch, nicht Fleisch. Nach der Godzilla-Sequenz in Crank 2 – High Voltage gelingt es Neveldine und Taylor diesmal, eine Musical-Sequenz in ihrem filmischen Flickenteppich unterzubringen. Immerhin. Eine Kritik von mir findet sich hier.

Saw VI (2009; Kevin Greutert): Jede Gesellschaft bekommt die Filme, die sie verdient hat. Bei Filmen wie Saw VI kann man zum Pessimisten werden.

Law Abiding Citizen (Das Gesetz der Rache; 2009; F. Gary Gray): Wer einen guten Selbstjustizfilm sehen will, sollte sich den britischen Harry Brown ansehen: Der 76-jährige Michael Caine ist immer noch zehn Mal cooler als dieser überflüssige und überkonstruierte Blödsinn.

The Proposal (Selbst ist die Braut; 2009; Anne Fletcher): Manchmal packt einen die Lust nach harmloser Mainstream-Unterhaltung, die wenigstens kompetent gearbeiteten Eskapismus bietet. The Proposal ist der falsche Film dafür. Er leistet nicht einmal das.



Leider Verpasst:


District 9 (2009; Neill Blomkamp); Fantastic Mr. Fox (2009; Wes Anderson); Los abrazos rotos (2009; Pedro Almodóvar); The Imaginarium of Doctor Parnassus (2009; Terry Gilliam); The Informant! (2009; Steven Soderbergh); Låt den rätte komma in (So finster die Nacht; 2008; Tomas Alfredson); Bad Lieutenant - Port of Call – New Orleans (2009; Werner Herzog); Bakjwi / Thirst (Durst; 2009; Chan-Wook Park); Where the Wild Things are (Wo die Wilden Kerle wohnen; 2009; Spike Jonze); Ai no Mukidashi / Love Exposure (2008; Shion Sono)