Dienstag, 11. November 2008

Tod, Elend und Slapstick: Monicellis I SOLITI IGNOTI

I SOLITI IGNOTI (etwa: Die üblichen Unbekannten)

(BIG DEAL ON MADONNA STREET / DIEBE HABEN'S SCHWER)

Mario Monicelli

I 1958

DVD (Criterion, USA), FS, OmU, b/w

*****


Eine weitere Komödie italienischer Art von Monicelli, an der sich gut die Berührungspunkte von Neorealismo und Commedia all’italiana in den 50er Jahren belegen lassen. Die Hauptfiguren, bestenfalls Helden des Alltags, sind arme Schlucker, stark typisiert und ihr Lebensumfeld ein zentrales Interesse des Films. Da ist der sizilianische Macho (Tiberio Murgia), der mit extremer Eifersucht über seine Schwester wacht (fast noch schöner als sonst: Claudia Cardinale in ihrer dritten Kinorolle); ein alleinerziehender Vater (Marcello Mastroianni), dessen Frau im Knast sitzt und ein ehrlicher Boxer (Vittorio Gassman), der bei der ersten Gelegenheit zum Dieb wird, damit er nicht arbeiten muss. Hinzu kommen ein komischer Alter (Totò), stets auf der Suche nach Essbarem und ein kleiner Dieb (Renato Salvatori), der sich in die Schwester des Sizilianers verliebt. Mit seiner expressiv agierenden Ensemble-Cast hält Monicelli immer die Wage zwischen Lächerlichem und Tragik, dummdreister Verbohrtheit und verletzter, aber doch intakter Würde. Insbesondere die wunderschöne Carla Gravina als Nicoletta bringt ein utopisches Moment in den Film; eine Hoffnung, für die auch der größte Umweg gerechtfertigt erscheint.


Der Humor des Films reicht von sorgfältig getimtem Slapstick bis zum nahtlosen Übergang von Komik in Schock, wobei die hier stärker als in LA GRANDE GUERRA zur Strukturierung des Films eingesetzten Zwischentitel deutlich auf die frühe Stummfilmkomödie verweisen. Insbesondere der an Dassins DU RIFIFI CHEZ LES HOMMES (1955) angelehnte Caper ist beispielhaft gelungen. Hier geht auch wirklich alles schief, was schiefgehen kann und letztlich bleibt vom intendierten Meisterverbrechen nur ein bloßer Akt des überkompliziert ausgeführten Mundraubs. In einer Nebenhandlung, die den Hauptplot variiert, folgen wir einem glücklosen Dieb bei seinen zahllosen Raubversuchen. Selbst der Versuch, mit vorgehaltener Pistole einen Pfandleiher zu berauben, geht schief: „Weißt du was das ist?“, raunt er drohend, und schiebt die Pistole unter der eingeschlagenen Zeitung heraus. Doch der Pfandleiher langt einfach über den Tresen, reißt ihm die Waffe aus der Hand, mustert sie abfällig und erwidert, sicher wisse er, was das ist; eine kleinkalibrige Beretta, in sehr schlechtem Zustand: „1000 Lire.“ Als wir dem Dieb dann bei seinem nächsten Versuch begegnen, diesmal dabei, mit dem Fahrrad einer Hausfrau die Handtasche zu rauben, erwarten wir eine weitere Slapstick-Szene. Und tatsächlich beginnt die Frau sich sogleich lautstark zu wehren, vertreibt den abermals gedemütigten und verhinderten Dieb. Er dreht sich um, rennt los – und wird direkt von der Straßenbahn erfasst. Schnitt zum Begräbnis. Die italienische Komödie bestimmt, wie schon erwähnt, eine Neigung zur Grausamkeit, oder besser: zur Härte. Lachen und Trauer, Komik, Elend und Tod, Spott und Zuneigung, Verachtung und Wertschätzung, Stärke und Schwäche; all das trennt hier oft gerade mal ein Schnitt. Besonders macht diese Filme ihre wohl auch politisch inspirierte Zuneigung zu den Deklassierten, die hier, ohne sie zu überhöhen oder zu verklären, in all ihrer Schäbigkeit doch als zutiefst menschliche, rührende und gleichsam rührselige Individuen erscheinen. Für die Oberschicht, die Monicellis Anti-Helden berauben wollen, interessiert sich der Regisseur keinen Deut. Für das Drama der einfachen Leute, also der üblichen Unbekannten [= i soliti ignoti], die der Film schon im Titel trägt, aber umso mehr.



Aufstieg zum Misserfolg: THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI

THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI
(DIE BRÜCKE AM KWAI)
David Lean
UK-USA 1957
DVD (Sony Pictures, Deutschland), Scope, OF, restaurierte Fassung
***(*)

Die letzten Worte des Films: „Madness! Madness!“ Und irgendwie beschleicht einen das Gefühl, damit sei weder der Krieg noch die Regelversessenheit der britischen Offizierskaste oder gar die Grausamkeit der japanischen Soldateska gemeint, sondern da würde auch ein wenig Selbstbezichtigung darin liegen. Leans Filmstil schien ab einem gewissen Punkt seiner Karriere nicht mehr ohne gigantischen Aufwand zu rechtfertigen. Auch hier füllt das Statistenheer als Masse den Bildkader aus, die Brücke selbst ist gigantisch, ein echter Zug muss freilich auch her für die letzte Sequenz.
Sicherlich, das ist alles brillant gefilmt, insbesondere die tiefenscharfen Totalen (70mm!), so ganz auf die große Kinoleinwand ausgelegt, dass selbst die Stars mitunter verschwindend klein erscheinen. Andererseits ist es aber auch reichlich grotesk, über eine Stunde dem heroischen Kampf eines britischen Offiziers in japanischer Kriegsgefangenschaft zu folgen, der dafür eintritt, dass britische Offiziere nicht arbeiten müssen – alle anderen seiner Soldaten aber schon. Das ist sicherlich ironisch intendiert, geht es hier doch um das sinnlose Streben zum Höheren. Der große Jean-Pierre Melville sagte einmal in einem Interview: „Es gibt immer eine Brücke am Kwai, die in der Tiefe meines Herzens ruht. Ich mag nutzlose Anstrengungen sehr. Der Aufstieg zum Mißerfolg ist eine ganz und gar menschliche Sache. […] Der Mensch geht von Erfolg zu Erfolg unentrinnbar auf sein letztes Scheitern zu.“ (in: Jean-Pierre Melville, Reihe Film Bd. 27, 1982, S. 85f.). Das ist die philosophisch-allegorische Ebene von Leans Films. Seine Zeichnung der Japaner jedoch ist, sagen wir einmal: ganz der Zeit verhaftet. Nicht, dass die Japaner hier dämonisiert werden würden. Das Problem ist vielmehr, dass sie bis auf den Ranghöchsten Colonel Saito (Sessue Hayakawa) als eine gesichtslose Masse erscheinen und grundsätzlich als inkompetent und unfähig porträtiert werden. Weder der japanische Architekt, noch die Offiziere erscheinen je auch nur ansatzweise fähig, die Brücke zu bauen. Dafür braucht es die „zivilisierten“ Briten. Die haben das nämlich in Indien gelernt. Beim Kolonisieren. Eben.

Es ist LAWRENCE OF ARABIA (1962), Leans Meisterwerk, in dem er viele Motive dieses Kriegsfilms noch einmal bearbeiten sollte und europäisch-westliche Überheblichkeit ebenso wie Motive des Kolonialismus komplexer und ambivalenter thematisieren sollte. LAWRENCE OF ARABIA ist der bessere Film, auch wenn Leans Absicht, mit BRIDGE ON THE RIVER KWAI einen ambivalenten Blick auf die internen Herrschaftsstrukturen (und den Irrsinn) des britischen Empires zu zeichnen, offensichtlich ist.

BRIDGE ON THE RIVER KWAI war nicht nur ein äußerst aufwändiger und erfolgreicher, sondern auch ein immens einflussreicher Film. So hat, um einmal ein eher ungewöhnliches Beispiel für seinen Einfluss anzuführen, Sergio Leone für IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO (1966) einige Einstellungen des Films fast exakt übernommen – natürlich für die Sequenz, in der die von Clint Eastwood und Eli Wallach gespielten Galgenvögel im US-amerikanischen Bürgerkrieg eine Brücke sprengen müssen.

"Once a crook, always a crook": CRIME WAVE

CRIME WAVE

(VON DER POLIZEI GEHETZT)

André De Toth

USA 1954

DVD (Warner Bros. USA), OF, b/w

***1/2


CRIME WAVE ist ein kleiner, in Innenräumen oft erstaunlich hell ausgeleuchteter Noir von André De Toth, mit dem jungen Charles Bronson (damals noch Charles Buchinsky) in einer Nebenrolle als tough guy. Der Film ist fast durchgängig on location in Los Angeles fotografiert (was den Neo-hardboiled-writer James Ellroy im Audiokommentar auf der US-amerikanischen DVD mehrfach zu irritierenden Ausbrüchen verleitet). Insbesondere der einleitende Tankstellenüberfall ist realistisch, schnörkellos und für die damalige Zeit äußerst kaltschnäuzig inszeniert: Für eine Tankfüllung Benzin und einige Dollars wird kurzerhand ein Polizist erschossen. Hier belegt die Inszenierung De Toths Talent für ökonomisches Erzählkino von höchster Präzision: Trotz geringer Mittel ist kein Schnitt unbegründet, kein Meter Film zuviel wird verschwendet. Der folgende Plot wurde schon hunderte Male verfilmt, aber bis zu einem gewissen Maß ist er die Essenz des Nachkriegs-Noir: Ein Unschuldiger (Gene Nelson), der in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen hat, sie aber längst abgebüßt hat, wird von den alten Kumpanen wider Willen zurück ins Verbrechen gezogen. Sterling Hayden ist der harte Cop, der nach der Maxime „Once a crook, always a crook“ verfährt, und die Misere bis zum abrupt-unglaubwürdigen Happy End noch vorantreibt.

Letztlich sind es allumfassende Schuldgefühle, die sich im Dilemma der Hauptfiguren dieser Filme veräußerlichen. Einer soziologisch geprägten Lesart wäre es ein Leichtes, hier ein Echo der Wahrnehmung der Weltkriegsveteranen wieder zu finden: Das Gefängnis war der Krieg, die Rückkehr in die Gesellschaft problematisch, ihre Institutionen feindlich und über der gesamten Gegenwart hängt die Schuld von allem, was man im Krieg getan hat.


Montag, 10. November 2008

Rote Telefone: Duccio Tessaris L'UOMO SENZA MEMORIA

L’UOMO SENZA MEMORIA

(DER MANN OHNE GEDÄCHTNIS)

Duccio Tessari

I 1974

DVD (Koch Media, Deutschland), WS, OmU

***1/2


Ein Giallo von Duccio Tessari und Drehbuchautor Ernesto Gastaldi, beide höchst produktive Professionals des italienischen Genrekinos in den 60er und 70er Jahren. Wie Martinos LA CODA DELLO SORPIONE (wo Gastaldi Kodrehbuchautor war) beginnt auch dieser Film in einer „exotisch-mondänen“ Location Europas, hier die Finanzmetropole London, in der sich der Titelgebende „Mann ohne Gedächtnis“ (Luc Merenda) aufhält. Durch die Manipulationen eines ehemaligen Partners, ihm als Folge seines Gedächtnisverlusts natürlich nun unbekannt, wird er in die Provinz Mailand gelockt, wo ihn seine Frau (Senta Berger) erwartet.


Abgesehen von dem wie so oft hölzern agierenden Luc Merenda sind die Schauspieler angenehm kompetent. Auch sonst weicht der Film stärker als etwa Martinos quasi-epigonale Varianten von der durch Argentos Thriller etablierten Formel ab: kein Mörder mit schwarzen Handschuhen, keine übermäßig subjektive Kamera, wohl aber eine undurchschaubare Intrige (die das Publikum allerdings schnell erahnen mag) und eine extra-unglaubwürdige Auflösung. Wie so oft ist aber auch hier die Welt, in der dieser Giallo spielt, die des gehobenen Bürgertums. Da hat sich das Ehepaar in New York kennengelernt, man reist eben mal nach London zum Shoppen, der J&B-Whisky – damals wohl äußerst populär in Italien und häufig in diesen Thrillern zu sehen – wird mehrmals einem Statussymbol gleich präsentiert. Das Haus von Bergers Protagonistin ist mit Antiquitäten, Rattanmöbeln und Perserteppichen ausgestattet, moderne Gemälde mit bunten Farbflächen zieren die Wände. Böswillige Kritiker tauften diesen Typ Giallo in Anlehnung an die in der Oberschicht angesiedelten Komödien des Faschismus, die sogenannten Telefoni bianchi [= weiße Telefone], auf den Namen Telefoni rossi.


Ein besonderer Reiz des Films liegt in seiner visuellen Gestaltung, wobei besonders enorme Weitwinkel-Totalen und extreme Details auffallen. So füllt urplötzlich eine Mundpartie den gesamten Bildkader aus, und immer wieder wird die Kamera in auffälliger Untersicht positioniert. Manche Einstellungen sind von fast singulärem Innovationswillen, so etwa die mittels eines extremen Teleobjektivs gefilmte Einstellung, in der ein kleiner Junge alleine in den Gruppenduschen eines Schwimmbads steht und diese durch die reduzierte Tiefenschärfe wie eine Art Kinder-Waschstraße wirkt. Ein ähnliches Bild findet Kameramann Giulio Albonico am Anfang in London, wenn er Merenda durch die identischen Vorbauten der lokaltypischen weißen Reihenhäuser hindurch filmt. In solchen Momenten scheinen die Figuren ihrer Umwelt gänzlich entfremdet, verloren und isoliert in einer kalten Moderne. Einige äußerst gewalttätige Sequenzen, zu dieser Zeit geradezu unvermeidbar in einem italienischen Thriller, bietet Tessari dem Publikum natürlich auch. Und am Ende schwingt – tatsächlich – Senta Berger die Kettensäge! Alleine das macht den Film sehenswert.

Regression: Otto Premingers BUNNY LAKE IS MISSING

BUNNY LAKE IS MISSING

(BUNNY LAKE IST VERSCHWUNDEN)

Otto Preminger

UK 1965

DVD (Sony Pictures, USA), Scope, OF, b/w

***


Robert Aldrichs WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? (1962) und HUSH … HUSH, SWEET CHARLOTTE (1964), später dann die Aldrich-Produktion WHAT EVER HAPPENED TO AUNT ALICE? (1969) und Otto Premingers BUNNY LAKE IS MISSING: Die Regression von Erwachsenen unter der Bürde frühkindlicher Traumata als Trend im Kino der 60er Jahre, exemplifiziert in einer Reihe von Camp-Filmen anerkannter Regisseure. Fast alle dieser Filme sind in kontrastreichem Schwarzweiß fotografiert, nahezu von der Qualität „klassischer“ Noir-Lichtsetzung. Sie tragen weibliche Kose- oder Kindernamen im Titel und stellen Frauenfiguren ins Zentrum der Handlung, die oft von Familienangehörigen gequält und in den Wahnsinn getrieben werden. Das Melodram als Horrorshow: Melo goes Madhouse.


… BUNNY LAKE ist vielleicht der schwächste unter den angeführten Titeln, aber er ist gewiss kein schlechter Film. Zusammen mit Saul Bass’ gewohnt gutem Vorspann (eine Hand reißt die Leinwand methodisch in Fetzen) stechen insbesondere Nebenrollen und set pieces heraus. Wo Aldrich oppressive Kamerawinkel, ornamentale Bilder und harte Schnitte wählt, da ist die Kamera bei Preminger zumindest zu Beginn in fast jeder Einstellung in Bewegung: soghaft fließende, schweifende Erkundungen einer filmischen Welt, in der nur Wenig ist, was es scheint. Im Gegensatz zu Aldrich sind es nicht die staubigen oder sumpfigen Einöden Amerikas oder die adrette Fassade Suburbias, sondern das London der Swinging Sixties, in dem das moderne Schauermärchen angesiedelt ist. The Zombies machen die Musik dazu.

Aber es ist nicht London, von dem wir ganz touristisch Big Ben und Piccadilly Circus sehen, sondern die Innenräume, die dem Film seine eigentliche Kraft geben. Die Kindertagesstätte: hell, aber dubios; die Kammern einer hexenhaften Alten darüber; der aufdringliche Nachbar (herausragend schmierig: Noel Coward) in seiner höhlenhaften Behausung, umgeben von einer Sammlung afrikanischer Masken, Peitschen und Schädel – die beiden letzteren angeblich vom Marquis De Sade höchstselbst. Später dann ein Raum voller Tieren in Käfigen, ein geradezu barockes britisches Pub, eine Puppenklinik mit einem wunderlichen Alten und ein Krankenhaus mit langen Schatten und einem dunklen Keller voller dröhnender Maschinen. Ganz am Ende entführt uns Preminger in einen nächtlichen Garten, in dem Erwachsene auf Schaukeln schwingen, Verstecken spielen und ganz reale Gräber ausheben. Was bei Aldrich zum Grand Dame Guignol oder Southern Gothic wird, ist bei Preminger vor allem die Erwachsenenwelt mit Kinderaugen gesehen. Das erscheint schlussendlich, obwohl im Finale fast lächerlich campy überzogen, durchaus konsequent.