Donnerstag, 26. Februar 2009

Bang your Head! – Darren Aronofskys THE WRESTLER



„The Wrestler“ – USA 2008 – R: Darren Aronofsky – Drehbuch: Robert D. Siegel – Produzenten: Darren Aronofsky, Scott Franklin – Musik: Clint Mansell – Kamera: Maryse Alberti – Schnitt: Andrew Weisblum – Darsteller: Mickey Rourke (Randy “The Ram” Robinson), Marisa Tomei (Cassidy), Evan Rachel Wood (Stephanie Robinson), Mark Magolis (Lenny), Ernest Miller (The Ayatollah) u. a. – Format: Scope – Länge: 109 min. – Verleih (D): Kinowelt, ab 26.02.2009.


In Joel und Ethan Coens barton fink (1991) muss ein in Hollywood gestrandeter Bühnenautor mit Schreibblockade einen Catcher-Film schreiben. Diese Idee geht zwar auf eine reale Begebenheit zurück, nämlich die Mitarbeit William Faulkners an dem Wallace-Beery-Vehikel flesh (1932), aber schon aufgrund des heute unbekannten Genres wirkt das Ganze reichlich absurd. Die offizielle Filmgeschichte kennt – im Gegensatz zum Boxerfilm – nur wenige Beispiele für Wrestler- oder Catcherfilme. Bestenfalls in Mexiko gibt es eine Tradition von „Santo“- und „Blue Demon“-Filmen, die film buffs mit einer Neigung zu obskuren Genres bekannt sein könnten. Ansonsten wäre da allenfalls noch Robert Aldrichs Frauencatcher-Film …all the marbles (1981), der in Deutschland unter dem Titel kesse bienen auf der matte verramscht wurde. Aber auch der war eigentlich eher eine bittere Anklage an das Reagan-Amerika im Gewand des Sportlerfilms.


Nun hat Darren Aronofsky, der sich mit pi (1998), requiem for a dream (2000) und zuletzt the fountain (2006) als einer der innovativsten jungen US-Regisseure einen festen Platz in den Feuilletons eroberte, sich angeschickt, den ersten richtigen Catcher-Film zu drehen. Das heißt: einen Film, der analog zu Boxerfilmen wie the set-up (1949), rocky (1976) und wie ein wilder stier (1980) die Protagonisten im Ring ins Zentrum rückt. Dazu erzählt the wrestler von einem alternden Show-Catcher, dessen beste Tage lange zurückliegen und der sich nach einem Herzinfarkt noch einmal aufrafft, seine Karriere zu reanimieren, ganz einfach, weil Prügel austeilen und einstecken das einzige ist, was er kann.


Eine lange Kamerafahrt entlang einer Wand voller Zeitungsartikel und Wrestling-Werbeplakate. Aus dem Off ist eine aufgeputschte Menge zu hören, ein Stadionansager kündigt Randy „The Ram“ Robinson (Mickey Rourke) an. Es sind die 80er, aus dem Off dröhnt von Quiet Riot „Metal Health (Bang Your Head)“: „Well I'm frustrated / Outdated / (…) I'm not a loser and I / ain't no weeper / (…) / Bang your head / Wake the dead / We're all metal mad / It's all you have / So bang your head / And raise the dead”.


Bang your head: Mit dem Kopf gegen die Wand. Der Song ist programmatisch. Mit dem Ende des Vorspanns springen wir zum röchelnden Husten auf der Tonspur in die Gegenwart. Randy sitzt nach einem Kampf auf einem Stuhl, den Kopf gesenkt, um sich im Raum Kinderspielzeug und eine Tafel. Vom Madison Square Garden, in dem er in der Titelsequenz noch angekündigt wird, ist er zu Auftritten in Turnhallen und Grundschulen abgestiegen. Auch sonst ist seitdem einiges schief gelaufen: Seine Ehe ist zerbrochen, die Tochter will nichts mehr von ihm wissen, er lebt in einem Mietwohnwagen im Trailerpark. Äußerlich hält der alternde Sportler die Illusionen der Vergangenheit aufrecht; er trainiert, lässt sich die langen Haare blondieren, Solariumsbesuche sorgen für einen gesunden Teint. Doch im Ohr hat Robinson längst ein Hörgerät, zum Lesen braucht er eine Brille, Knie und Ellenbogen sind kaputt und ohne Steroide bringt jede Qual im Fitnessstudio nichts mehr. Wenn er keine Auftritte hat, schlägt er sich mit Aushilfsjobs durch, etwa im Supermarkt an der Fleischtheke. Hier lässt sich Aronofsky zu einer forcierten Metaphorik hinreißen: Der nicht mehr verwertbare Mensch als sinnloser Klumpen Fleisch, oder wie sich der Catcher selbst einmal charakterisiert: „I’m an old broken down peace of meat“.


Randy ist ein ausgedienter Gladiator, ein Relikt aus einer Zeit, als Heavy Metal noch ironiefrei war, Männer lange Haare trugen, Kurt Cobain und Grunge unbekannt waren und Emo gänzlich undenkbar war. In der Vergangenheit hängengeblieben, hat er das Ziel aus den Augen verloren. Das erste Plakat, das erste Bild des Films, verkündete: „The Main Event: Randy ,The Ram’ Robinson vs“. Aber gegen wen er antritt, das erfahren wir nicht. Gegen sich selbst, müssen wir wohl annehmen.

Denn Selbstzerstörung ist das Programm. Randy, der Fleischberg mit dem Waschbrettbauch unter der zerschundenen Haut, schlägt sich vor dem ersten Fight im Film – unter Kronleuchtern und Neonlicht – erst einmal einen Stuhl gegen den Kopf. Das ist freilich Teil der Show, ebenso wie er sich in einem unbemerkten Moment am Boden mit einer Rasierklinge die Stirn aufritzt. Ein blutiges Gesicht soll Realismus suggerieren. Aber noch Stunden später fängt die Kopfwunde wieder zu bluten an. Der netten Stripperin (Marisa Tomei), der einzigen Person, zu der er einen ansatzweise funktionierenden Sozialkontakt aufrecht erhält, fällt dazu nur Mel Gibsons „Die Passion Christi“ ein: „You gotta see this. It’s amazing! They throw everything at him: whips, arrows, rocks. Beat the living fuck out of him for whole two hours.“ Und wenn man es genau bedenkt, hat sie völlig recht: Auch Gibsons Bibelfilm war – neben seinem antisemitischen Diskurs – im Wesentlichen doch ein reines Gewaltspektakel; eben eine ordentliche Show mit viel Blut, ähnlich Wrestling.

Der nächste Kampf beginnt entsprechend mit einem blutenden Kerl im Ring, der im Stacheldraht liegt. Die Männer wälzen sich in Glassplittern, sprühen sich Insektenvernichtungsmittel in die Augen, tackern sich Geldscheine an die Stirn und prügeln mit einer mit Stacheldraht umwickelten Krücke aufeinander ein. Das alles ist immer noch Show (nun eben: The Passion of The Wrestler), längst ist jedoch eine Grenze überschritten. Aber selbst wenn die Ärzte Robinson die Showkämpfe verbieten, was soll er schon machen? “It's all you have / So bang your head / And raise the dead”. Bei Aronofsky geht es immer um Menschen, die sich das eigene Grab schaufeln; sich mit Drogen, Arbeit oder in ihrer Paranoia zugrunde richten, die wie Hamster im Rad laufen, bis der Zusammenbruch kommt, die gegen Wände rennen, wenn sie versuchen, auszubrechen. „The Wrestler“ unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den anderen Filmen des Regisseurs.


Die Besetzung des titelgebenden Wrestlers ist wohl eine der besten Casting-Ideen der letzten Jahre und der Coup des Films. Mickey Rourke, der Mann mit dem zusammengesetzten Gesicht, Walter Hills johnny handsome (1989), spielt „The Ram“. Und es ist weiß Gott zunächst einmal Rourkes Film. Er stattet diesen von Narben überzogenen Koloss mit einer Mischung aus Wut, Würde und Verletzlichkeit aus und legt neben Sean Penn in Gus Van Sants milk (2008) die wohl beste Schauspielerleistung des letzten Jahres vor. Natürlich zieht der Film seine Stärke auch aus der biografischen Nähe der Figur Randy Robinson und seines Darstellers. Wie der fiktive Robinson war Rourke eine Ikone der 80er Jahre, in denen der heute 56-jährige als neuer Marlon Brando galt. In Coppolas rumble fish (1983) war er der „Motorcycle Boy“, in Adrian Lynes Designer-Erotik-Schmonzette 9½ wochen (1986) das männliche Sexsymbol, in Alan Parkers schwülem Horror-Thriller angel heart (1987) ein Mann, der seine Seele an den Teufel verkauft hat. Und genau das nahm man ihm zurückblickend ab: Als ob der Teufel nun seinen Lohn einfordern würde, ging es in den 90ern steil bergab. Rourke trat fast nur noch in Schund auf, machte vor allem Schlagzeilen mit seinen Versuchen als Profiboxer, ließ sich dabei jedoch das Gesicht so stark zertrümmern, dass er eine ganze Serie plastischer Operationen über sich ergehen lassen musste. Erst in den letzten Jahren konnte er sich nach und nach wieder zu größeren Hollywood-Rollen hocharbeiten. Man nimmt ihm die Hartnäckigkeit, den Schmerz und das Leiden nicht nur ab, Rolle und Schauspieler verschmelzen.


Aronofskys sympathisierendem, aber unnachgiebigem Blick geht dabei jeder Spott ab. Die Welt der Wrestler, die mit unzähligen Cameos im Film vertreten ist, wird zwar als tendenziell selbstzerstörerische, aber weitgehend solidarische Subkultur gezeigt. Wenn „The Ram“ mit Schürze und Haarnetz im Supermarkt hinter der Theke steht, dann wirkt er nicht lächerlich, sondern vielmehr verletzlich. Es ist Aronofskys Stärke, uns diesen Verlierer nahe zu bringen, ohne in Kitsch oder einen aufgesetzten Pseudo-Realismus abzudriften. Dabei schafft das grobkörnige 16-mm-Filmmaterial Unmittelbarkeit (der Film wurde erst später auf 35 mm aufgeblasen). Und die Handkamera folgt Rourke: Beim Weg in den Ring ebenso wie beim Gang zum neuen prekären Arbeitsplatz im Supermarkt, selbst beim Joggen im Wald. Das wirkt in etwa so, als ob die Kamera ein eigenständiger Protagonist wäre, die einen alten Freund begleitet. Wenn „The Ram“ schließlich mit seiner Tochter in einem verfallenen Gebäude tanzt, der utopische Moment dieses Films, dann tanzt auch die Kamera um beide und zugleich mit ihnen.


Das Ende des Films bleibt ambivalent. Aber das ist wohl der optimistischste Schluss, den wir für eine Figur wie „the Ram“ – und für einen Protagonisten in einem Aronofsky-Film grundsätzlich – erwarten können.



Donnerstag, 19. Februar 2009

Macho Man: Clint Eastwoods THE EIGER SANCTION


the eiger sanction / im auftrag des drachen – USA 1975 – Regie: Clint Eastwood – Drehbuch: Hal Dresner, Warren B. Murphy, Rod Whitaker nach einem Roman von Trevanian – Produktion: Robert Daley – Produktionsfirma: Malpaso – Kamera: Frank Stanley – Musik: John Williams – Schnitt: Ferris Webster – Darsteller: Clint Eastwood (Jonathan Hemlock), George Kennedy (Ben Bowman), Vonetta McGee (Jemima Brown), Jack Cassidy (Miles Mellough), Heidi Brühl (Mrs. Montaigne), Thayer David (Dragon), Reiner Schöne (Freytag), Michael Grimm (Meyer), Jean-Pierre Bernard (Montaigne) u. a. – Format: Panavision 2.35:1 – Länge: 123 min. – Verleih (D): CIC


Das Gros von Clint Eastwoods Regiearbeiten lässt sich in bestimmte Kategorien einordnen. Da sind zum einen die kommerziellen, durchaus meisterlichen Genrefilme, die Western und die Polizeifilme, die er in regelmäßigen Abständen drehte. Und dann gibt es die persönlichen, gewagten Projekte, die sich wiederum grob in Künstlerbiographien und Melodramen aufteilen lassen. In keine dieser Kategorien fallen jedoch Filme wie the eiger sanction (Im Auftrag des Drachen; 1975), firefox (1982) und heartbreak ridge (1986). Auch zählen sie nicht zu dem Strang in Eastwoods Werk, der das Projekt verfolgte, jener bei Leone und Siegel geformten Eastwood-Persona sukzessive etwas von ihrer Misanthropie, ihrer Gewalttätigkeit und ihrer antisozialen Attitüde zu nehmen, wie dies beispielsweise the outlaw josey wales (Der Texaner; 1976) und honkytonk man (1982) betrieben. Und es sind bis auf heartbreak ridge kommerzielle Projekte des Regisseurs, die nicht in seinen Stammgenres angesiedelt sind.


Müsste man sie einem Genre zuordnen, dann am ehesten dem Kriegs- und Spionagefilm, und hier gilt, zumindest bis zum Dyptichon flags of our fathers und letters from iwo jima (2006), wie Paul Smith angemerkt hat: „Clint Eastwood is perhaps not best known for his war movies“. Hinzu kommt, dass sie nur im weitesten Sinne Kriegsfilme sind. Sie thematisieren zwar den Kalten Krieg mehr oder weniger direkt, doch nur die letzte halbe Stunde von heartbreak ridge kommt an die typischen Situationen und Motive des Genres heran. Ganz so, als ob ihr Regisseur der Gattung nicht recht traut, sind die drei Filme eher Genre übergreifend angelegt. the eiger sanction ist Spionage-, Abenteuer- und Bergfilm zugleich und firefox trägt Züge eines Science-Fiction-Films, orientiert sich in der Schlusssequenz etwa deutlich an George Lucas’ star wars (Krieg der Sterne; 1977). heartbreak ridge wiederum changiert zwischen Psychogramm eines alternden Militärs und Kriegsfilm, nicht ohne Züge einer schwarzen Komödie zu integrieren. In Bezug auf ihre Genres sind diese Filme also alles andere als „rein“. Und sie waren trotz ihrer kommerziellen Ausrichtung auch Experimente für ihren Regisseur: the eiger sanction etwa als organisatorisches und körperliches Wagnis und firefox, der erste Film, für den Eastwood als Produzent zeichnete, als kommerzielles. heartbreak ridge leitete letztendlich sogar den bedeutendsten Wandel von Eastwoods Leinwandimage ein: das Altern seines realen Körpers am Körper des Stars Eastwood auszustellen.


Mit jedem seiner frühen Kriegs- und Spionagefilme versuchte sich Eastwood auch an unterschiedlichen Entwürfen von Männlichkeit. In dieser Beziehung sind sie wie nur wenige andere Eastwood-Filme auf der Höhe ihrer Zeit, auch wenn sich durchaus Rückgriffe auf die 50er und 60er Jahre finden lassen. firefox etwa steht mit seinem zunächst traumatisierten und erst im Körperpanzer Erlösung findenden Helden den Hardbodies der 80er Jahre nahe, wenngleich Muskel gepanzerte Körper erst in heartbreak ridge ausgestellt werden. Zugleich stellt der finale Luftkampf in firefox fast schon einen paradoxen Zirkelschluss in Eastwoods Karriere da, die unter anderem mit einer sehr kleinen Rolle als Pilot in Jack Arnolds tarantula (1955) begann.


Auch the eiger sanction, Eastwoods vierte Regiearbeit, greift auf populäre Männlichkeitsbilder zurück, vornehmlich auf die narzisstischen Maskulinitätsentwürfe der James Bond-Serie. Eastwood spielt hier Dr. Jonathan Hemlock, Ex-Spion, Bergsteiger und Kunstsammler, Universitätsprofessor und Auftragsmörder. Teils aus Gier, teils aus persönlichen Motiven, halb gezwungen und halb aus Langeweile, nimmt er eine weitere „Sanktion“ an, einen Auftragsmord, der ihn schließlich bis an die Eiger-Nordwand bringt. Schon die kaum zu vereinbarenden Professionen des Protagonisten zeigen, wie wenig ernst sich der Film nimmt und wie sehr es Eastwood „an allen Ecken und Kanten“ übertreibt (Norbert Grob). So liegt der Reiz des Films vor allem in seinem Camp-Charme und seinen parodistischen Momenten. Der Geheimdienstchef beispielsweise ist ein fetter Albino, der in regelmäßigem Turnus eine Blutwäsche benötigt. Die Szenen, in denen ihn Hemlock aufsucht, wirken mit ihrer primärfarbigen Ausleuchtung, als habe man Mario Bava für die Lichtsetzung angeheuert, ebenso wie an der Universität ein ungesundes grünliches Licht vorherrscht. Die Charaktere von the eiger sanction sind so exotisch wie ihre Namen: Der affektiert-tuntige Spion Miles Mellough mit seinem Yorkshireterrier „Faggot“, die attraktive indianische Bergsteigerin „George“, der Geheimdienstchef „Dragon“, der schon mit den Nazis Geschäfte gemacht hat (die Sequenz, in der wir dies erfahren, fehlt in der deutschen Fassung). Um den Intellektualismus des Kunstprofessors zu betonen, fällt Eastwood nichts Besseres ein, als mit Brille und Tweedjackett aufzutreten und gekünstelt zu sprechen, was jedoch schnell den bekannten sarkastischen One-linern weicht. Unvereinbares steht nebeneinander, auch der Plot zerfällt in drei nur notdürftig verbundene Abschnitte.


Wenn anfänglich „kaum ein Eastwood-Film ohne Exzesse, Längen oder überzogene Effekte aus[kam]“ (Gerhard Midding / Frank Schnelle), dann ist the eiger sanction das beste Beispiel dafür. Eastwood selbst hat sich in Interviews offen zu seinen Problemen mit dem Film bekannt: „I took a book Universal owned - a bestseller - and I couldn’t figure out what to do.“ Und: „The only excitement you could do was on a visual level and that is the way it was written.” Einige der visuellen Umsetzungen sind in der Tat außerordentlich gelungen. In einer Szene besteigen Hemlock und sein Buddy Bowman (Burt Kennedy) etwa Totem Pole, einen der säulenartigen Tafelfelsen in Monument Valley. Als sie auf dem Gipfelplateau angekommen sind und ihren Erfolg in der Dämmerung hoch über der roten Sandsteinlandschaft feiern, zoomt die Kamera kurz zurück, erhebt sich von einem Two-shot der beiden Männer über ihre Köpfe und zieht in einer umkreisenden Bewegungen in eine majestätische Totale. Je höher die Kamera steigt, desto mehr geht sie in eine Aufsicht über, die von der Feier des Augenblicks zur Betonung des Ausgeliefertseins angesichts der Schwindel erregenden Höhe kippt. Wie in dieser Sequenz akzentuiert Frank Stanleys Kameraarbeit immer wieder zugleich das Aufgehen der Männer in der Natur wie auch die Gefahr, die von dieser ausgeht. Die zerklüftete Landschaft der Eiger-Nordwand bildet einen Raum, der weniger befreit denn einschließt, eher Gefahr verheißt als Freiheit. Hier testen sich die Männer aus, wobei Männlichkeit mit Kontrolle über die Natur gleichgesetzt wird. Dazu stellen die Bergsteigersequenzen, die tatsächlich vor Ort und nicht im Studio realisiert wurden, wiederholt ihre Echtheit aus. Um zu beweisen, dass es kein Stuntdouble, sondern wirklich Eastwood selbst ist, der da 1200 Meter über einem Abgrund hängt, fängt die Kamera zugleich den Schauspieler wie die Tiefe unter ihm ein oder zoomt immer wieder aus Landschaftstotalen in nahe Einstellungen.


Parallel hierzu stellt the eiger sanction zwei Modelle von Männlichkeit einander gegenüber, eine starke machistische und eine schwache feminisierte, beide über ihr Verhältnis zur Natur definiert. Auf der einen Seite stehen der unförmige Albino (Thayer David) und der tuntige Mellough (Jack Cassidy), dessen Namen schon an das englische mellow (zart, mürbe, weich) erinnert. Mit beiden wird Betrug, Verrat und Intrige assoziiert, beide sind schwach und in einer natürlichen Umgebung nicht lebensfähig. „Dragon“ würde im Sonnenlicht sofort sterben und genau dieses Schicksal wird Mellough von Hemlock bereitet: Er setzt den Schwulen, dem gegenüber ihm die Verachtung ins Gesicht gemeißelt ist, in der gleißenden Wüstensonne Arizonas aus und lässt ihn verdursten. Im Hinblick auf homophobe Momente in Eastwoods Werk ist dies vielleicht der Tiefpunkt: Mellough ist die widerliche Karikatur eines Frauen verachtenden Schwulen; dem Protagonisten ist er es nicht einmal wert, ihn eigenhändig umzubringen und selbst sein Hund verlässt ihn, um zu Hemlock in den Wagen zu springen. Als Gegenmodell dieser Karikatur wird Hemlocks vital-polygame Heterosexualität permanent betont; wohin er auch kommt, eindeutige Angebote und künftige Geliebte.


Was the eiger sanction eng mit den Kriegsfilmen Eastwoods verbindet (auch mit den beiden Ende der 60er Jahre von Brian G. Hutton inszenierten), ist das zynische Weltbild, das der Film in Bezug auf sein Genre ins Extrem steigert: „The mission is a pointless fake, both sides being equally corrupt“ (Edward Gallafent). In dieser korrupten Welt, das ist der amüsante Twist des Films, ist Hemlock letztlich alles andere als der player, für den er sich hält, sondern im Gegenteil ein „man on a string“ (Norbert Grob), eine Puppe, die an unsichtbaren Fäden bewegt wird in einem Spiel, dass er nicht durchschaut. Dies mildert die bösartigen Momente des Films ab und verhindert, dass hier tatsächlich der „All-American warrior hero“ glorifiziert wird, wie etwa Joy Gould Boyum in einer zeitgenössischen Rezension erkennen wollte.


Diese Kritik erschien zuerst auf: www.filmzentrale.com



Sonntag, 15. Februar 2009

Bad, bad bank: THE INTERNATIONAL


the international – USA-D-UK 2009 – Regie: Tom Tykwer – Drehbuch: Eric Singer – Produktion: Lloyd Phillips, Charles Roven, Richard Suckle [Executive Producer: u.a. John Woo] – Kamera: Frank Griebe – Musik: Reinhold Heil, Johnny Klimek, Tom Tykwer – Schnitt: Mathilde Bonnefoy – Darsteller: Clive Owen (Louis Salinger), Naomi Watts (Eleanor Whitman), Armin Mueller-Stahl (Wilhelm Wexler), Ulrich Thomsen (Jonas Skarssen) u.a. – Format: 2.35:1 (Super 35) – Länge: 118 min. – Verleih (D): Sony Pictures Releasing


Ein (Anti-)Held kämpft gegen eine transnational agierende Großbank, gegen den Neoliberalismus und eine inhumane Wirtschaftsordnung; kurz: explizit gegen Kapitalismus und implizit wohl auch ein wenig gegen die Moderne. Die Gegenwartswelt, das ist hier eine Glas-&-Betonlandschaft, unbewohnt und unbewohnbar, aufgeräumt und leer, repräsentativ und kalt, bestimmt von Grau- und Blautönen. Selbst die Sitzgarnituren in den Bankgebäuden wirken wie Ausstellungsstücke in einer Installation. Die Raum- und Räume-Ordnung der Moderne als Werk eines menschenfeindlichen Künstlers; ein wenig erinnert dies an Dario Argento, Alan J. Pakula, Michael Mann und Brian De Palma, die ganz ähnliche filmische Räume in ihren besten (Oberflächen-)Filmen der 70er und 80er Jahre ausgestellt haben. Als Gegensatz hierzu wird das New Yorker Büro der Ermittler aufgebaut: kreatives Chaos; Aktenberge, Papierstapel und dazwischen Kaffeepötte; ein knautschiges Ledersofa und ebensolche Sessel; die Hemdkrägen der Menschen darin nicht mehr gestärkt wie die der Charaktermasken in den Banken. Schließlich dann der Schritt zur lustvollen Destruktion, ein Ausbruch der Gewalt im New Yorker Guggenheim-Museum: weiße, kalte Wände werden durchlöchert, Glaskuppeln zertrümmert, Spiegel zerschossen. Einfach alles zu Klump hauen; bluten, schwitzen, leiden; überleben, um sich überhaupt einmal lebendig zu fühlen (in Bezug auf diese Sequenz nehme ich jede Wette an, dass sich Tykwer vor dem Dreh noch einmal McTiernans die hard [Stirb langsam; 1988] angesehen hat). Das ist nun der absolute Gegensatz zu den smarten Bankern, die nicht ein einziges Mal in diesem Film mit wenigstens Schweißflecken unter den Achseln gezeigt werden. Und darum wird auch Armin Mueller-Stahls Figur zum späten Märtyrer-Helden wider Willen: Weil er alt ist, also schwitzt und riecht und längst überholt ist, folglich in der technokratischen Umwelt nicht mehr sein darf und ihm nichts anderes als Rebellion bleibt.


the international: Der Titel bezieht sich nicht nur auf die (fiktive) „bad“ bank IBBC und die Globalisierung, gegen die Clive Owens Ermittlerfigur antritt. Der / die / das Internationale – das ist auch eine Absichtserklärung: Zum einen ist der Film selbst eine europäisch-amerikanische Koproduktion mit einem deutschen Regisseur und zwei britischen (Semi-)Stars in den Hauptrollen, der Expatriate John Woo (!) fungiert als einer der ausführenden Produzenten. Und zum anderen sind auch seine Handlungsorte international, spielt der Film doch überwiegend in den Großstädten der westlichen Hemisphäre, in Berlin, Mailand, New York, eine besser als die andere fotografiert von Frank Griebe, Tykwers langjährigem Stammkameramann. Nur eine Stadt wird auffällig anders gezeigt: Istanbul, der Ort, an dem der Film mit einem archaischen, folglich vormodernen und in der Logik des Films notwendigen Akt endet: mit Blutrache. Inszenatorisch folgt Tykwer dabei ganz der Tradition des westlichen Kinos, die mit dem Orient Chaos, Unüberschaubarkeit und emotionalen Exzess assoziiert, idealerweise im Bild des überfüllten Basars gebündelt. Von Istanbul sehen wir neben der unvermeidlichen Einstellung auf die Galatabrücke und das Goldene Horn dementsprechend in verwackelten Kameraeinstellungen den Kapalı Çarşı, den Großen Basar, als Ort voller Menschengewusel und Warenallerlei. So tritt vertraute Unordnung an die Stelle der Leere und Kälte der hypermodernen Verwaltungsgebäude in den europäischen und amerikanischen Metropolen. Mit einer Moschee und der spätantiken Zisterne darunter (die Cisterna Basilica [?]) wird später gar ein archaisch-sakraler Raum als Gegenmodell zu den heiligen Hallen der Banken aufgebaut. Hier tut sich dann allerdings ein gewaltiger Zwiespalt auf: Dramaturgisch argumentiert Tykwer für die Emotionalität von Owens Ermittlerfigur und den (letzlich sinnlosen) Racheakt, der als Coda den Film beschließt, also für eine Rückwärtsgewandtheit, für die hier symbolisch Istanbul, Italien und als Personifikation der Owen’sche Barfuß-Polizist stehen. Ästhetisch aber ist er den Glas- und Stahlfassaden, den Lichtermeeren, den Museen im Innen und Außen der Großstädte verfallen wie ein Michael Mann. Das allerdings schadet dem Film weniger als das Problem, die Spannung auf der Thrillerebene für knapp zwei Stunden aufrecht zu halten. Bis zu dem kathartischen Gewaltausbruch im Guggenheim-Museum dauert es sehr lange und danach wird gleich wieder das Tempo zurückgenommen. Für einen internationalen Erfolg ist der Film damit wohl etwas zu langsam inszeniert. Auch wirkt Naomi Watts oft verloren, aber, das sei Tykwer auf jeden Fall hoch angerechnet, es gibt glücklicherweise keine sinnlose Double-plot-Konvention, wie sie selbst Ridley Scott in body of lies (Der Mann, der niemals lebte; 2008) zwanghaft untergebracht hat, obwohl die Dramaturgie nicht danach verlangt und der Film dadurch einfach nur länger wird.


Letztlich ist the international trotz (oder eher: aufgrund) all seiner Fehler zu so etwas wie einem Debüt-Film geworden: das eigentliche internationale Debüt Tykwers, also der Film, dem man weniger den auteur Tykwer anmerkt als den meisterlichen Handwerker. Die gefällige Eichinger-Produktion das parfum (2006) konnte als Mainstream-Kunsthandwerk diese Rolle nicht übernehmen; das war eher Eichingers Film. Und schlecht ist the international beileibe nicht, denn, sind wir doch einmal ehrlich, in Europa gibt es zu viele (Möchtegerne-)Autorenfilmer und zu wenig gute Handwerker und Genreregisseure. In diesem Sinn ist the international für mich – neben winterschläfer (1997) – vielleicht sogar der beste Film von Tykwer bisher.



Samstag, 14. Februar 2009

„And I want my scalps!“ – Neues von der postmodernen Sampling-Front


„Once upon a time in Nazi-occupied France…“ – so beginnt das Drehbuch zu Quentin Tarantinos neuem Film inglourious basterds. Und wer das seit etwa einem halben Jahr im Internet kursierende Drehbuch gelesen hat, der weiß, dass die Rechtschreibfehler im Titel tatsächlich aus dem Drehbuch stammen, das von Rechtschreibfehlern nur so wimmelt. Es sei eine Hommage an das oft fehlerhafte Englisch der italienischen B-Filme, die ihn inspiriert hätten, so der Regisseur. Zu diesen Filmen gehört sicherlich Enzo G. Castellaris Exploitation-Klassiker quel maledetto treno blindato (I 1978), der in Deutschland als „Ein Haufen verwegener Hunde“ bekannt ist und in den USA – eben – als „Inglorious Bastards“ vermarktet wurde (allerdings mit korrekter Orthografie). Insofern war die "Hommage" wohl eher eine Ausrede. Wer das Drehbuch gelesen hat, der weiß allerdings auch, dass Tarantino nicht nur ein Legastheniker, sondern immer noch ein begnadeter Drehbuchautor ist.


Zum Abschluss der Dreharbeiten in Deutschland und gerade noch pünktlich zur Berlinale ist nun ein erster Teaser zu dem lange angekündigten Guys-on-a-Mission-Film des populärsten filmischen Vertreters der Postmoderne erschienen. Der Film wird wohl ähnlich wie kill bill ein brillant gefilmtes (Kamera: Robert Richardson), aber nicht sonderlich ernst gemeintes Zitatensammelsurium der Filmgeschichte werden (der historisch äußerst unkorrekte Filmschluss wird jedoch ganz sicher Diskussionsstoff bieten). Neben Castellaris Trashfilm sind im Trailer schon einmal Robert Aldrichs the dirty dozen (Das dreckige Dutzend; 1967) und Sergio Leones il buono, il brutto, il cattivo (Zwei glorreiche Halunken; 1966) als weitere visuelle Referenzpunkte auszumachen. Es werden sicherlich nicht die einzigen bleiben. Viel Spaß mit dem Trailer…



Donnerstag, 5. Februar 2009

Ennio Morricone auf der Ukulele...


Ennio Morricones Filmmusik für Leones Italowestern nimmt seit fast 40 Jahren ihren festen Platz in der Popkultur ein. Alleine bis 1970 waren ca. 40 Millionen Schallplatten mit Morricones distinktiver Filmmusik verkauft worden, 1989 lag er nach Verdi auf dem zweiten Rang der meistgespielten Komponisten Italiens. Seit Hugo Montenegros Coverversion des Titel-Themas von IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO / THE GOOD, THE BAD AND THE UGLY 1968 die britischen Charts anführte, sind unzählige Neuarrangements von Morricones Stück erscheinen. Die kongeniale Version des "Ukulele Orchestra of Great Britain" (siehe unten) dürfte eine der amüsantesten sein. Und für diejenigen, die immer schon einmal wissen wollten, wie einige der ungewöhnlichen Körperklänge möglicherweise hergestellt wurden, die bei Morricone zum Einsatz kommen, wohl auch eine der lehrreichsten …




Auf YouTube findet sich zudem die Ukulele-Version von „Smells like Teen Spirit“ und des SHAFT-Titelsongs, beides Paradebeispiele für staubtrockenen britischen Humor.


Dienstag, 3. Februar 2009

Die bleiernen Jahre: UN BORGHESE PICCOLO PICCOLO


UN BORGHESE PICCOLO PICCOLO / engl. Verleihtitel: AN AVERAGE LITTLE MAN – I 1977 – Regie: Mario Monicelli – Drehbuch: Sergio Amidei, Mario Monicelli nach einer Vorlage von Vincenzo Cerami – Produktion: Aurelio De Laurentiis, Luigi De Laurentiis – Kamera: Mario Vulpiani – Musik: Giancarlo Chiaramello – Schnitt: Ruggero Mastroianni – Darsteller: Alberto Sordi (Giovanni Vivaldi), Shelley Winters (Amalia Vivaldi), Vincenzo Crocitti (Mario Vivaldi), Romolo Valli (Dr. Spazioni), Renzo Carboni (Bankräuber) u. a. – Format: Breitwand 1.85:1 – Länge: 122 min. – Verleih (D): –


Eine nebelige Uferlandschaft, melancholische Musik, in der Bildmitte ein Steg mit einem Angler darauf. Am linken Bildrand eine Ruine, unter der sich ein zweiter Mann befindet, niedergekauert, fast in Fötalstellung. Da dies ein Standbild ist, über das zudem die Filmtitel laufen, können wir das ungewöhnliche Panorama lange beobachten. Es zeigt, wie wir bald erfahren, Vater und Sohn, gespielt von Alberto Sordi, dem Star der Commedia all’italiana, und dem eher unbekannten Vincenzo Crocitti. Man befindet sich auf einem kleinen Streifen Land außerhalb Roms, den sich Giovanni Vivaldi (Sordi) von seinem spärlichen Beamtengehalt gekauft hat. Ein Paradies sei es, sagt er später, und die Landschaft, die doch eher trostlos wirkt, akzeptiert den Euphemismus stumm. Sein Sohn Mario zuckt nur mit den Schultern. Die Kinder von heute: kein Verständnis für die schönen Dinge des Lebens! Ein Generationenkonflikt wird angedeutet. Und noch etwas wird gezeigt: Als der Vorspann endet, hat Giovanni einen Fisch gefangen. Es ist ein großer Fisch, eine Bestie, wie er empört feststellt, als das Tier ihn durch den wollenen Handschuh hindurch beißt. Dafür zertrümmert er ihm mit einem Stein den Kopf, schlägt wieder und wieder zu, bis dieser nur noch Brei ist und, einfach so, vom Rumpf abfällt. Die Kamera hält voll drauf. Eine Irritation, ganz zu Anfang also. Dieser so ruhig wirkende, etwa 50-jährige scheint eine Menge unterdrückte Aggressionen in sich zu tragen.


Die beiden Männer kehren nach Hause zurück, in die muffig-kleine Wohnung, in der der Sohn im Wohnzimmer auf einer Ausziehcouch schläft und Giovanni seine duldsame Frau (eindrucksvoll gespielt von Shelley Winters) herumkommandiert. Ununterbrochen lobt der Vater den Sohn, dem er mit allen Mitteln eine Stelle in seiner Behörde verschaffen will. Mario ist eben ein figlio unico, ein Einzelkind, und damit der ganze Stolz seiner Eltern. War schon die Uferlandschaft nicht wirklich einladend, so ist die Hauptstadt aber nur noch abschreckend: vom Rom der Touristen sehen wir bei Monicelli nichts. Stattdessen: ein einziges hässliches Chaos voller Smog und Schmutz, überall Autos, regennasse Straßen, die nichts mehr reflektieren, bestenfalls stumpf schimmern. Im Rückblick wirkt der Nebel der ersten Bilder nun fast so, als sei der römische Smog schon in diese Bilder hinübergewabert. Auf dem Amt, in dem Giovanni arbeitet, versinken die Angestellten im buchstäblichen Sinn in Arbeit: Die Männer sind im Büro hinter Aktenordnern eingegraben und können nicht einmal mehr Blickkontakt halten. Konsequenterweise zeigt die Kamera beim morgendlichen Geplänkel nacheinander montiert Einstellungen des jeweiligen Aktenbergs, hinter dem sich der Sprecher verbirgt. Ein anderer Kollege (Romolo Valli) – höhere Hierarchie und damit unbegrenzt freie Zeit zur Verfügung – verbringt den Tag damit, seine aus dem Haar gekämmten Schuppen nach dem Prachtexemplar des Tages zu durchsuchen. Ein erfülltes Leben sieht anders aus. Vielleicht verstehen wir nun etwas von diesem „sehr einfachen Bürger“ Giovanni Vivaldi: Glück, Erfüllung, selbst das Paradies, das sind alles nur relative Dinge. Im Verhältnis zu diesem Rom, zur schäbigen Wohnung, zur Entfremdung der Arbeitswelt ist die kleine Hütte am Flussufer vielleicht wirklich das Paradies.


Die gesamte erste Stunde ist – abgesehen von dem irritierenden Moment mit dem Fisch – dem Tonfall der Commedia all’italiana verpflichtet, wobei insbesondere Vivaldis Versuche, seinem Sohn eine Beamtenstelle zu verschaffen, an die grotesken Momente des Genres anknüpfen. So tritt der Vater sogar den Freimaurern bei, um die entsprechenden Verbindungen zu erhalten, und dabei wird die in sich selbst schon absurde Aufnahmezeremonie gänzlich ins Lächerliche gezogen, bis zum Slapstick ausgereizt. Schließlich kommt der Tag von Marios Aufnahmeprüfung. Der ist perfekt vorbereitet, hat er doch die Prüfungsunterlagen dank der neuen Kontakte seines Vaters schon im Voraus einsehen können. Aber kurz zuvor werden Vater und Sohn Zeuge, wie eine Bank ausgeraubt wird. Schüsse fallen, ein MG knattert. Giovanni steht verwirrt da, im Gesicht ein Blutspritzer. Vor ihm liegt sein Sohn in einer Blutlache.


Von diesem Moment an, exakt zur Hälfte der Laufzeit, wechselt Un borghese piccolo piccolo vollständig den Tonfall. Nichts bleibt mehr von der ironisch-komödiantischen Haltung, schrullig-amüsante Momente werden völlig aufgegeben, bestenfalls das Groteske wird in die nachfolgende Tragödie hinübergerettet. Denn das Schicksal meint es nicht gut mit Giovanni. Als ob der Verlust des Sohns nicht ausreichen würde, hat seine Frau einen Schlaganfall. Stumm vegetiert sie von nun an vor dem Fernseher dahin. Auch sonst wird es Giovanni schwer gemacht, zu vergessen. Nicht einmal der Friedhof bietet seinem Sohn einen Platz; die Warteliste für ein neues Grab füllt ein ganzes Buch. Die Mitgliedschaft bei den Freimaurern hilft hier wenig. Und so wird der tote Mario in einem von jammernden Angehörigen überfüllten Lagerraum abgestellt, in dem sich rechts und links die vor Jahren eingelagerten Särge bis unter die Decke stapeln. Als einer der Särge explodiert, stürzt eine ganze Sarg-Wand ein. Nichts ungewöhnliches, wird Giovanni aufgeklärt, das geschieht regelmäßig – die Zersetzungsgase, sie wissen schon. Das mag grotesk überzeichnet wirken, aber in Anbetracht des Missmanagements und der Korruption im Italien der 1970er Jahre ist das wahrscheinlich direkt aus der Tageszeitung ins Drehbuch übernommen worden. Giovanni jedenfalls nimmt auch dies hin; was soll er auch machen. Als er jedoch bei einer Gegenüberstellung einen der Täter wiedererkennt, sagt er nichts, sondern folgt dem jungen Mann, zieht ihm bei der ersten Gelegenheit den Wagenheber über den Kopf und entführt ihn. Er schafft ihn in das Haus am Fluss und fesselt ihn mit Draht an einen Stuhl. Dann macht er mit ihm das, was er mit dem Fisch am Anfang gemacht hat: Er schlägt ihn tot.


Monicellis sperriges Werk ist einer dieser Filme, die in kein Schema passen: Die erste Hälfte ist eine fast typische italienische Komödie, die zweite Hälfte eine bittere Tragödie, die in ihren freundlicheren Momenten anmutet, wie ein mit kalter Wut versetzter Buñuel-Film. Zudem ist das Ganze mit expliziten Bezügen zur italienischen Tagespolitik angereichert. Nicht nur, dass Mitte der 70er Jahre die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe kontrovers geführt wurde, nebenher erfahren wir z.B., dass Giovanni in der Resistenza gewesen war und seit Jahren vergeblich auf seine Pension wartet. Der Banküberfall greift den ganz realen Terror in den Straßen auf, der in den anni di piombo, den bleiernen Jahren, das politische Geschehen unübersichtlich machte. Auch die grassierende Arbeitslosigkeit und die allumfassende Korruption werden thematisiert. Ergreift Monicelli vor diesem Hintergrund Partei für einen amoklaufenden Kleinbürger? Rückt er ihn zur Entschuldigung in die Tradition der Resistenza, wie es ganz deutlich Enzo G. Castellaris Il cittadino si ribella (Ein Mann schlägt zurück; I 1974) konstruierte? Hat für Monicelli der Terror der Straße, der Jugend und der politischen Radikalisierung die Gewalt der Faschisten ersetzt und ist „Un borghese piccolo piccolo“ eine Art italienische Death Wish-Variante (Ein Mann sieht Rot; USA 1974)? Nicht wirklich. Dagegen spricht schon, dass Gewalt in diesem Film grundsätzlich nichts bringt. Sie bleibt vor allem Gewalt, wird immer so gezeigt, dass es weh tut: unmittelbar, direkt, ohne abzublenden, nie schafft sie auch nur die geringste Katharsis. Als Giovanni etwa seine stumme Frau zu dem gefangenen Mörder ihres Sohns bringt und beide gegenüberstellt, kann diese nur wimmern. Weder beginnt sie wieder zu sprechen, noch scheint sie irgendeine Genugtuung zu empfinden. Und auch Giovannis Handeln wirkt zunehmend irrational und übermäßig grausam. Nachdem er den Jungen entführt hat und ihm den Wagenheber bereits einige Male über den Kopf geschlagen hat, zeigt uns Monicelli den alten Mann in einer langen Einstellung, wie er am Tisch sitzt, isst und dabei gewissenhaft seine Büroarbeit erledigt, während im Vordergrund der Junge vor sich hin blutet. (Überhaupt sehen wir erstaunlich viel Blut in diesem Film – immer schreiend rot). Am Ende deutet Monicelli an, dass der tote Bankräuber nicht Giovannis einziges Opfer bleiben wird. Auch der Titel ist letztlich doppeldeutig: Erzählt der Film nun von dem sprichwörtlichen kleinen Mann auf der Straße oder verweist das „piccolo piccolo“ als Steigerung auf einen sehr kleinen Mann im Sinne von kleinkariert, mit begrenztem Horizont? Fraglos tut einem dieser von der Welt verlassene „kleine Kleinbürger“ zwar leid, aber wirklich nachvollziehbar wird sein Handeln auch nicht. Monicelli lässt uns einfach mit der ganzen Malaise alleine, setzt die Gewalt der zweiten Hälfte als Antidot zum Humor der ersten Hälfte. Damit bringt er die italienische Komödie, die immer einen Hang zur Tragödie und zum Elend hatte, an einen Endpunkt: Er treibt ihr (und uns) das Lachen aus. Der Gestus ist offensichtlich: Schaut euch doch um! Während alles vor die Hunde geht, da wollt ihr noch Lachen?


In Frankreich und Italien wurde Un borghese piccolo piccolo in seinem zeitgenössischen Kontext und im Œuvre Monicellis verstanden. In Cannes war er 1977 für die „Goldene Palme“ nominiert, in Italien gewann er fünf Preise beim „David di Donatello“, u.a. als bester Film, für die beste Regie und Alberto Sordi als besten Schauspieler. In Deutschland fand er nicht einmal einen Verleih.