„Poliezei“
(„Polisse“; F 2011; Regie: Maïwenn)
Ein junges Mädchen erzählt mit flehendem Blick, ihr Vater habe sie lieb, „zu lieb“. Eine 14-Jährige prostituiert sich für ein Handy und kann nichts Falsches dabei erkennen – immerhin war es ja ein Smartphone, für das sie ihren Schulkameraden einen geblasen hat. Eine drogensüchtige Mutter entführt ihr Kleinkind aus der Kinderkrippe, beim Betteln fällt es ihr auf den Boden und wird schwer verletzt. Tagtäglich werden die Polizisten der Pariser Jugendschutzabteilung mit unfassbarem Elend konfrontiert: Verwahrlosung und familiäre Gewalt, bandenmäßig organisierte Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch, Inzest und Kinderpornografie. Während Abteilungsleiter Balloo (Frédéric Pierrot) sich mit bürokratischen Vorgesetzen einen Kleinkrieg um Finanzmittel liefert, wird der Abteilung die junge Fotografin Melissa (Maïwenn) zugeteilt, die deren Arbeit dokumentieren soll. Nach anfänglichen Spannungen von der Gruppe akzeptiert, begleitet Melissa die Sondereinheit in den nächsten Wochen und lernt die Abgründe der französischen Gesellschaft kennen.
Regisseurin Maïwenn, zugleich Koautorin und eine der Hauptdarstellerinnen, versucht in ihrer dritten Regiearbeit „Polisse“ („Poliezei“), die Komplexität des bedrückenden Sujets mit all seinen Widersprüchen darzustellen. Die Milieus, in denen die Polizisten ermitteln, reichen vom Prekariat bis in die abgeschotteten Luxusappartements der Oberschicht. Nicht in jedem Fall können die Ermittler sicher sein, ob wirklich ein Missbrauch vorliegt. Und manche ihrer Entscheidungen, etwa Familien für immer auseinanderzureißen, mag den Kindern, denen sie helfen wollen, eher schaden.
„Polisse“, dessen in krakeliger Kinderschrift falsch geschriebener Titel auf die jungen Opfer verweist, mit denen die Polizisten konfrontiert werden, ist alles andere als ein herkömmliches Genrestück. Vielmehr inszeniert die ehemalige Kinderdarstellerin Maïwenn einen Ensemblefilm, in dessen Mittelpunkt der Umgang der Protagonisten mit ihrer schwierigen Arbeit steht; ein kaleidoskopisches und multiperspektivisches Sittenbild; differenziert, mitunter vielleicht etwas didaktisch und konstruiert, aber stets mitreißend. Die sprunghafte Montage, die oft improvisiert wirkende Bildgestaltung und eine episodische Struktur erinnern dabei an dokumentarische Erzählformate, auch an Bertrand Taverniers seinerzeit umstrittenen Klassiker „L.627“ („Auf offener Straße“; 1992). Das naturalistische Spiel der ausgezeichneten Schauspielerriege – allen voran Karin Viard und Marina Foïs – trägt ein Übriges dazu bei, dass „Polisse“ trotz seiner Länge von mehr als zwei Stunden eine selten erlebte Unmittelbarkeit und emotionale Wucht entwickelt.
Das „Polisse“ kein gänzlich zermürbender und hoffnungsloser Film ist, liegt daran, dass die Regisseurin ihren Protagonisten trotz des düsteren Arbeitsalltags flüchtige Glücksmomente zugesteht, etwa in einem Nebenhandlungsstrang die vorsichtige Annäherung der jungen Fotografin und des Polizisten Fred (JoeyStarr). Einen gemeinsamen Disco-Besuch der Abteilung inszeniert Maïwenn gar als Musical-Sequenz – ein Stilbruch in der sonst dem Verismus verpflichteten Inszenierung, als ästhetische Zäsur zugleich eine kleine Utopie. Aufgrund seines schwierigen Sujets hat „Polisse“, der auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, natürlich bei uns nicht das große Publikum gefunden, das er verdient. Das ist schade, zählt er doch zu den eindringlichsten und interessantesten Filmen des Jahres.
Dieser Text ist in einer leicht gekürzten Form zuerst erschienen auf: www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/kino-kino
„Poliezei“ („Polisse“; F 2011)
Regie: Maïwenn - Drehbuch: Maïwenn, Emmanuelle Bercot - Produktion: Alain Attal - Kamera: Pierre Aïm - Schnitt: Laure Gardette - Musik: Stephan Warbeck - Verleih: Wild Bunch - Länge: 127 min. - Besetzung: Maïwenn, Karin Viard, JoeyStarr, Marina Foïs, Nicolas Duvauchelle, Karole Rocher, Emmanuelle Bercot, Frédéric Pierrot, Arnould Henriet, Naidra Ayadi, Jéréie Elkaim u.a. - Kinostart (D): 27.10.2011
Regie: Maïwenn - Drehbuch: Maïwenn, Emmanuelle Bercot - Produktion: Alain Attal - Kamera: Pierre Aïm - Schnitt: Laure Gardette - Musik: Stephan Warbeck - Verleih: Wild Bunch - Länge: 127 min. - Besetzung: Maïwenn, Karin Viard, JoeyStarr, Marina Foïs, Nicolas Duvauchelle, Karole Rocher, Emmanuelle Bercot, Frédéric Pierrot, Arnould Henriet, Naidra Ayadi, Jéréie Elkaim u.a. - Kinostart (D): 27.10.2011
Und der deutsche Trailer via Youtube:
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