Sonntag, 4. August 2013

One Man Up: Paolo Sorrentino


Retrospektive Paolo Sorrentino beim Filmfest München

Anlässlich des deutschen Kinostarts von Paolo Sorrentinos "La grande bellezza" hier ein kurzes Porträt des italienischen Filmemachers, das ich zu der diesjährigen Retrospektive auf dem 31. Filmfest München für den Bayerischen Rundfunk und dessen Filmmagazin "Kino Kino" geschrieben habe.

Das 31. Filmfest München würdigt mit Paolo Sorrentino und Alejandro Jodorowsky dieses Jahr zwei bedeutende Protagonisten des internationalen Kinos mit längst überfälligen Retrospektiven. Zu dieser mutigen und eher unkommerziellen Wahl muss man den Filmfestmachern gratulieren. Denn sowohl Sorrentino wie Jodorowsky gehören zwar unterschiedlichen Generationen an, kommen aber beide eher von den Rändern des gemeinhin gültigen Kinokanons:
Der 84-jährige Jodorowsky, ein chilenisch-französischer Filmemacher, Theaterregisseur, Comic-Autor und Magier, ist eine der zentralen Ikonen der "Midnight Movies" und des Undergroundkinos der wilden 1970er-Jahre. Der andere, der 1970 geborene Neapolitaner Paolo Sorrentino, war bis zu seiner Politsatire "Il Divo – Der Göttliche" dem internationalen Kinopublikum außerhalb Italiens zu Unrecht nahezu unbekannt.


Seit seinem Spielfilmdebüt, der schwarzen Komödie "L'uomo in più" ("One Man Up"; 2001), hat Sorrentino neben Dokumentar- und Kurzfilmen fünf Spielfilme inszeniert, die ihn als eines der großen Talente des gegenwärtigen italienischen Kinos ausweisen. Von den beiden frühen Kriminalfilmen "Le conseguenze dell'amore" ("The Consequences of Love"; 2004) und "L'amico di famiglia" ("The Family Friend"; 2006) über das satirische Biopic "Il Divo – Der Göttliche" (2008) bis zu dem Roadmovie "Cheyenne – This Must Be the Place" zeichnen sich alle Filme Sorrentinos durch eine geradezu barocke Inszenierung aus. Ausgestellte "tote" Zeit, lange Einstellungen und elaborierte Kamerafahrten sowie kunstvolle Ellipsen und antiillusorische Verfremdungseffekte machen sie schon formal zu den interessantesten Werken des europäischen Arthaus-Kinos.


Im Mittelpunkt von Sorrentinos Œuvre stehen einsame, oft groteske, mitunter monströse Männerfiguren, die stets wie Fremdkörper wirken; abgekapselt und ausgeschlossen aus der Welt und dem Leben der Menschen um sie. So verdämmern der Mafia-Banker (Toni Servillo) in "Le conseguenze dell'amore" und der schmierige Kredithai (Giacomo Rizzo) in "L'amico di famiglia" ihr Leben in baufälligen Hotels und Wohnungen, die in ihrer Schäbigkeit mit dem traurigen Innenleben der Figuren korrespondieren. Auch gesellschaftlichen Aufsteigern geht es nicht besser: Der Machtpolitiker Giulio Andreotti (Toni Servillo) in "Il Divo" und der Popstar Cheyenne (Sean Penn) in "This Must Be the Place", Sorrentinos erstem englischsprachigen Film, vegetieren in ihren antiken Palästen und kitschigen Prunkbauten wie Einsiedler.

Die Protagonisten von Sorrentinos mitunter surreal anmutenden Filmen sind sich selbst und ihrer Umwelt entfremdete Menschen, Treibgut im Chaos der Moderne. Toni Servillos Mafia-Handlanger in "Le conseguenze dell'amore" lässt sich somnambul durch das Leben treiben und fantasiert sich in die Rolle des romantischen Helden. In dem Moment aber, in dem er sich zum Subjekt seines Handelns erhebt und gegen seine kafkaeske Situation aufbegehrt, besiegelt er sein Schicksal – er wird von der Mafia mit den Füßen voran in einem Trog aus flüssigem Beton versenkt. Auch Sean Penns an den "The Cure"-Sänger Robert Smith angelehnter Rockstar, der sich in "Cheyenne – This Must Be the Place" auf die Jagd nach einem Nazi-Kriegsverbrecher begibt, kommt auf seiner Reise nie irgendwo wirklich an.



Die monströseste Figur in Sorrentinos Werk ist jedoch der christdemokratische Politiker Giulio Andreotti in "Il Divo", den Toni Servillo, der Lieblingsschauspieler des Regisseurs, wahrhaft meisterlich verkörpert: ein unscheinbarer Bürokrat, zugleich ein machiavellistischer Machtpolitiker, eine undurchdringliche Charaktermaske und Sinnbild der Verquickung von Politik, Gewalt und Mafia. Was diesen Menschen, der sich mit roboterhaften Bewegungen durch die Repräsentationsräume der Macht bewegt, antreibt; was ihn bewegt, ob er überhaupt zu Liebe oder Hass, Freude oder Wut fähig ist, bleibt unklar. Servillos Andreotti ist eine leere Hülle der Macht; ein Strippenzieher und eine Marionette zugleich in einem bitter-sarkastischen und furios inszenierten Endspiel. Bereits in der zu dem Popsong "Toop Toop" des französischen Elektro-Duos Cassius montierten Exposition verdichtet Sorrentino die bekanntesten Mafiamorde der Jahre 1978 bis 1992 zu einer Gewaltgeschichte Italiens im Stil eines Musikvideos. Überhaupt ist Sorrentinos filmische Tour de Force weniger eine Verfilmung der außerordentlichen Biografie Andreottis, der sieben Mal italienischer Ministerpräsident war und an 33 italienischen Regierungen als Minister beteiligt war, sondern vielmehr einen Crash-Kurs in italienischer Geschichte, der wie im Zeitraffer 50 Jahre italienischer Politik zu knapp zwei Stunden Kino destilliert.


Paolo Sorrentino hat innerhalb von zwölf Jahren ein Œuvre vorgelegt, das thematisch und stilistisch an die goldene Ära des italienischen Kinos in den 60er-Jahren anknüpft, als Regisseure wie Michelangelo Antonioni ("La notte" / "Die Nacht"; 1961) und Bernardo Bertolucci ("Il conformista" / Der Konformist", 1969), aber auch Genrefilmer wie Mario Monicelli ("I compagni" / "Die Peitsche im Genick" aka "Die Weber von Turin"; 1963) und Pietro Germi ("Divorzio all'italiana" / Scheidung auf Italienisch"; 1961) in ihren kunstvoll fotografierten Filmen von der fundamentalen Erschütterung erzählten, die die Industrialisierung und die Erfahrung der Moderne den Menschen Italiens angetan haben. Das Werk des 43-jährigen Regisseurs vereint Motive des Genrekinos – Komödie, Melodram, Gangsterfilm, Roadmovie – mit Stilmitteln des europäischen Kunstfilms und seiner poetischen Sensibilität für die kulturellen und politischen Abgründe der Gegenwart. In seinem jüngsten Film, "La grande bellezza" ("Die große Schönheit"), bezieht sich Sorrentino ganz unmittelbar auf einen Schlüsselfilm des italienischen Kinos der 60er-Jahre, auf Fellinis "La dolce vita – Das süße Leben" (1960), den er modernisiert, um ein galliges Porträt der römische Bunga-Bunga-Schickeria zu entwerfen. Diese bittere Bestandsaufnahme der Ära Berlusconi, die im Mai auf dem Filmfestival in Cannes uraufgeführt wurde, erlebte auf dem Filmfest München in Anwesenheit des Regisseurs ihre Deutschlandpremiere. Zusammen mit einer Auswahl von Kurzfilmen Sorrentinos wurden zudem alle Spielfilme des Regisseurs gezeigt. Höchst sehenswert sind sie allesamt – und für viele Zuschauer wohl auch eine echte Entdeckung.

Keine Kommentare: