Donnerstag, 10. Dezember 2009

Eastern/Western: Ferdinando Baldis BLINDMAN



blindman
/ il cieco / blindman, der vollstrecker – Italien-USA 1971 – Regie: Ferdinando Baldi – Produktion: Tony Anthony, Allen Klein, Saul Swimmer – Story: Tony Anthony – Buch: Tony Anthony, Pier Giovanni Anchisi, Vincenzo Cerami – Kamera: Riccardo Pallottini – Musik: Stelvio Cipriani – Darsteller: Tony Anthony („Blindman”), Ringo Starr („Candy”), Lloyd Battista („Domingo”), Magda Konopka („Sweet Mama”), Raf Baldassarre (mexikanischer General), Agneta Eckemyr u.a. – Länge: 105 Min. – Format: Techniscope, 2.35:1 – Deutsche Erstaufführung: 08.06.1972 – DVD von Koch Media (ungekürzt, im Originalformat, inklusive Bonusmaterial und Originalfassung mit Untertiteln)


Die Idee, als Protagonisten eines Western einen blinden Revolvermann einzusetzen, dürfte eine der abstrusesten Ideen in der Geschichte des Genres sein. Und entsprechend verwundert es kaum, dass sich hinter dem programmatischen Titel blindman kein US-amerikanischer Genrebeitrag verbirgt, sondern ein im Wesentlichen italienisch finanzierter Western. Die Idee für diesen Film kam dem Team um Hauptdarsteller / Koproduzenten / Koautoren Tony Anthony vermutlich während der Dreharbeiten von lo straniero di silenzio aka the silent stranger (Der Schrecken von Kung-Fu; 1968), dem ersten Italowestern, der nicht nur in Japan gedrehte wurde, sondern auch thematisch den Chambara mit dem Western all’italiana kombinierte. Dabei besitzt Japan eine lange Tradition von Genrefilmen über den blinden Samurai (und Masseur) Zatôichi, die bis heute mehr als zwanzig Filme hervorgebracht hat und das unmittelbare Vorbild zu Ferdinando Baldis blindman darstellt.


Tatsächlich begann Ende der 1960er / Anfang der 70er Jahre auch das asiatische Kino zunehmend auf die Italowestern zu reagierten. In zatôichi to yôjinbô (Zatoichi meets Yojimbo; 1970), dem zwanzigsten Film der zatôichi-Serie, verwies die Bestellung von vier Särgen nicht mehr nur auf Kurosawas yojimbo (1961), sondern auch auf die entsprechende Szene aus dem europäischen Remake per un pugno di dollari (Für eine Handvoll Dollar; 1964; R: Sergio Leone). Einflüsse des Italowestern auf die japanische kozure ôkami-Serie (1972ff.), die Hong-Kong-Produktionen der Shaw Brothers und ihrer Konkurrenzfirma Golden Harvest sowie auf John Woos kinetische Gewaltballette und Tsui Harks Wuxia-Filme sind ebenfalls unverkennbar. So zitierte z.B. Bruce Lees in Rom gedrehte Regiearbeit meng long guo jiang (Die Todeskralle schlägt wieder zu; 1972) mehrfach musikalisch c’era una volta il west (Spiel mir das Lied vom Tod; 1968; R: Sergio Leone). Filme wie zhan shen tan (Die Todesbucht der Shaolin; 1973) verwiesen explizit auf Leones „Dollar“-Trilogie und Lung Chiens tang ren piao ke (Wang Yu – Stärker als 1000 Kamikaze; 1973) verwendete etwa Morricones Titelthema von il buono, il brutto, il cattivo (Zwei glorreiche Halunken; 1966). Besonders die Hong-Kong-Produktionen der 60er und 70er Jahre integrierten internationale Einflüsse. Das Shaw-Studio, das ab Mitte der 50er Jahre Musicals, Melodramen, Opern-Adaptionen, Martial-arts- und Wuxia-Filme produzierte, begann Ende der 60er Jahre, sich an internationalen Mischformen zu beteiligen. Die Filme von Chang Cheh und King Hu übernahmen z.B. Motive aus dem japanischen Genrekino und dem Western all'italiana, darunter die übertriebenen Sound-Effekte, neue Kamera- und Schnitttechniken und den Einsatz des Zooms. Parallel dazu entstanden in Italien Westernmixturen mit japanischen Schauspielern, z.B. Tonino Cervis oggi a me ... domani a te (Heute ich, morgen du; 1968) mit Tatsuya Nakadai, dem Schurken aus yojimbo, und Terence Youngs soleil rouge / sole rosso (Rivalen unter roter Sonne; 1971) in dem Charles Bronson, Toshirô Mifune und Alain Delon die Hauptrollen übernahmen. Anfang der 70er Jahre erschienen weitere Italowestern-Martial-arts-Kreuzungen, etwa il mio nome è shangai joe (Der Mann mit der Kugelpeitsche; 1972) und che botte, ragazzi (Zwei durch dick und dünn; 1975). Die Shaw Brothers, zu dieser Zeit auch an Koproduktionen mit dem britischen Hammer Studio beteiligt, produzierten bald italienisch-chinesische Gemeinschaftsprojekte wie là dove non batte il sole (The Stranger and the Gunfighter; 1974) mit Lee Van Cleef und Lieh Lo, Golden Harvest finanzierte ähnliche Hybride.


Der von der zatôichi-Reihe inspirierten blindman ist also zumindest im Hinblick auf seine Genese nicht so ungewöhnlich, wie er zunächst erscheinen mag. Er ist auch keine unmittelbare Fortsetzung der „Stranger“-Filme, die der ehemalige Method actor Tony Anthony zuvor mit Luigi Vanzi inszeniert hat (neben lo straniero di silenzio erstellte das Team die minimalistischen Low-Budget-Western un dollaro tra i denti [Ein Dollar zwischen den Zähnen; 1967] und un uomo, un cavallo, una pistola [Western Jack; 1967]). Zwar hat Anthonys Protagonist hier wie in den Vorgängerfilmen keinen Namen. Doch schon in seiner Kleidung unterscheidet sich der blinde Revolverheld, der für 50 000 Dollar die Aufgabe übernommen hat, 50 Katalogbräute (!) durch die Wüste zu treiben und diese an eine Gruppe texanischer Bergarbeiter abzuliefern: Statt des abgerissenen Stetson des „Strangers“ trägt Anthony diesmal ein Ungetüm auf dem Kopf, das ein wenig wie ein geschmolzener, brauner Zimmermannshut aussieht und zusätzlich mit einem kleinen Patronengurt versehen ist. Auch das rosa Hemd, der Poncho und die schwarze Mähre der Vorgängerfigur fehlen. Stattdessen hat er nun ein Blindenpferd, einen behindertengerechten Kompass, einen zerschlissenen Duster und ein Repetiergewehr mit Bajonettaufsatz, das ihm als Blindenstock dient.



Ähnlich wie der „Stranger“ ist der Protagonist ein alles andere als souveräner Held und wird kaum je von seiner Umwelt ernst genommen. Überhaupt ist der Plot als weitgehend sinnfreie Abfolge von Demütigungen und Vergeltungsaktionen angelegt. Schon als wir den Blinden kennenlernen, haben ihn seine Partner übers Ohr gehauen und der Anblick, wenn er am Schwanz seines Pferdes festgeklammert in eine Stadt einzieht, ist einfach nur erbärmlich. Zwar kann der Blinde die Männer, die ihm die Frauen gestohlen haben (gespielt vom Beatles-Produzenten Allen Klein und dem Beatles-Roadie Mal Evans), in die Luft sprengen. Die 50 Frauen jedoch befinden sich mittlerweile in der Gewalt des psychotischen Banditen Domingo (Lloyd Battista), seines debilen Bruders Candy (Ringo Starr [!] in seiner einzigen Westernrolle) und ihrer sadistischen Schwester Sweet Mama (Magda Konopka). Zusammen mit der Dorfschönheit (Agneta Eckemyr) und einem mexikanischen General (Raf Baldassarre) kann „Blindman“ zwar Domingo und Konsorten ausschalten, am Ende werden ihm die Frauen allerdings von dem Mexikaner geraubt. Wie in Vanzis vorangegangenen Anti-Western ist der Held am Ende der Verlierer.


Anthony beschrieb seine Rolle einmal als einen eher alltäglichen Helden: „He’s not your typical gunslinger. He’s more of an existential hero […]. I never wanted to be a superhero; I felt audiences could relate to me as someone in the street.” Tatsächlich dürften der Schauspieler und sein Regisseur Baldi mit diesem Film den wohl verletzlichsten Italowestern-Protagonisten erschaffen haben. Der Film nimmt sich erstaunlich viel Raum, das Handikap des Blinden ins Bild zu setzen, etwa wenn er mühsam ein Hotelzimmer bezieht oder ohne sein Gewehr und Pferd hilflos herumirrt. Letztlich ist blindman aber vor allem ein groß angelegter Action-Western, der aufgrund des enormen Budgets mit einigen beeindruckenden Massenszenen und guten Sets aufwarten kann, durch die die bizarren Elemente des Films noch stärker zum Tragen kommen. Das Prinzip beschrieb Anthony einmal als: „Everything was exaggerated, then played straight”. So bewohnen die baddies etwa ein mittelalterliche Schloss, das Gros der Bande wirkt weniger wie Mexikaner, sondern eher wie eine Kreuzung aus Hippies und Heavy-Metal-Barbaren. Ansonsten erweist sich Baldi als Meister im Einrichten mehr oder weniger metaphorischer Kastrationsbilder. Als der Blinde mit „Sweet Mama“ kämpft, beißt diese ihn z.B. zwischen die Beine. Nachdem er ihr mit seinen Schenkeln das Genick gebrochen hat (!), kommentiert er schockiert: „Being without eyes is one thing, but without that … whew!“ Das Thema Nekrophilie wird ebenfalls gestreift, wenn die Dorfschönheit in einer groß angelegten Hochzeitsszene gezwungen werden soll, den mittlerweile toten Candy zu heiraten. Die ausführliche Sequenz, in der die 50 Frauen dann nackt in einer riesigen Waschküche zum Verkauf zurechtgemacht und dazu eimerweise mit Wasser übergossen werden, atmet ähnlich wie die Sequenz, in sie halbnackt durch die Wüste getrieben werden, den Geist niedersten Exploitation-Kinos.


In den USA wurde der für 1,3 Millionen Dollar gedrehte und von den Kritikern einhellig verrissene Film kein überragender Erfolg. Ein Rezensent (Donald Mayerson) beklagte die „excessive, pointless, and sadistic violence, as well as [a penchant for] undraping women in the most humiliating way”. Dem kann man kaum widersprechen, insbesondere da genau dies das Ziel der Filmemacher gewesen sein dürfte. Außerhalb der USA spielte der Film allerdings über 15 Millionen ein und wurde ein enormer kommerzieller Erfolg. In der pakistanischen Großstadt Karatschi lief er angeblich sogar sechs Monate ununterbrochen in einem stets ausverkauften Kino. Heute ist er ein Kuriosum aus einer Zeit, in der in Europa Genrefilme am Fließband hergestellt wurden, die trotz ihrer oft kruden Plots handwerklich erstaunlich gut gearbeitet sind und als Unterhaltungsfilme äußerst effektiv funktionieren.



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