Samstag, 26. Dezember 2009

Kinky, Kinky! Lucio Fulcis UNA SULL'ALTRA



Una sull’altra
(Perversion Story aka Nackt über Leichen) – I-F-E 1969 – Regie: Lucio Fulci – Kamera: Alejandro Ulloa – Produktion: Edmondo Amati, Maurizio Amati (Empire Films; Productions Jacques Roitfeld; Coop. Trébol Films) – Schnitt: Ornella Micheli – Drehbuch: Lucio Fulci (auch Story), Roberto Gianviti (auch Story), José Luis Martínez Mollá – Musik: Riz Ortolani – Darsteller: Jean Sorel (Dr. Geroge Dumurrier), Marisa Mell (Susan Dumurrier / Monica Weston), Elsa Martinelli (Jane), Alberto de Mendoza (Henry Dumurrier), John Ireland (Inspector Wald), Lucio Fulci (Graphologe) u.a. – FSK: 16, nicht feiertagsfrei – Länge: 99 min. – Erstaufführung Italien: 15.08.1969, deutsche Erstaufführung: 24.09.1971

Lucio Fulci war in allen Genres zuhause. Der 1927 in Rom geborene Regisseur drehte von den späten 1950er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1997 über 50 Filme. Darunter waren so bodenständig-biedere Werke wie die Heinz-Rühmann-Komödie
Operazione San Pietro (Die Abenteuer des Kardinal Braun; 1967), Italowestern wie der solide Rache-Western Tempo di massacro (Django – Sein Gesangbuch war der Colt; 1966) und der geradezu delirierende I Quattro dell’apocalisse (Verdammt zu leben – verdammt zu sterben; 1975), der retrospektiv wie der letzte Geisterhauch des Genres in Europa wirkt. Hinzu kommen eher auf ein bäuerlich-proletarisches Publikum ausgerichtete Genreparodien mit dem in Italien äußerst populären Komikerpaar Ciccio Ingrassia und Franco Franchi, etwa die Filme über den Agenten „002“, die nicht nur die James-Bond-Serie, sondern auch die Welle der „Eurospy“-Thriller veralberten, sowie Abenteuerfilme nach Jack London, Thriller, Endzeitfilme und Gangsterfilme. Und, natürlich, die blutrünstigen Horrorfilme, für die der Regisseur außerhalb Italiens wohl am Besten bekannt ist. Zwar belegen diese Filme Fulcis sicheres Gefühl für Atmosphäre (egal wie hundsmiserabel die Schauspieler agieren und wie billig die Spezialeffekte sind). Sie schrecken aber zugleich vor kaum einer Scheußlichkeit zurück, sondern bieten sie im offensiven Zeigegestus dar: In L’aldila (Geisterstadt der Zombies; 1981), Fulcis vielleicht schönstem Horrorfilm, dem Dietmar Dath mit Die salzweißen Augen (2005) eine Hommage erwies, durften die wohl unglaubwürdigsten Plastik-Vogelspinnen der Filmgeschichte eine menschliche Zunge zerfleischen (!) und einem Unglückseligen die Augen herausreißen (!), in Paura nella città die morti viventi (Ein Zombie hing am Glockenseil; 1980) erbrach eine Protagonistin gleich ihre eigenen Gedärme, was dramaturgisch zwar eher sinnlos war, aber als Zirkus-Attraktion dargeboten in sich seinen eigenen Wert besaß.

Fulci war zuvorderst Genreregisseur; ein Filmemacher, der seine Filme für das Publikum und nicht für die Kritiker drehte. Und da er nicht selten das Publikum in den zweit- und drittklassigen Kinosälen im Auge hatte, war er bestrebt, die thrills zu liefern, nach denen es diesem verlangte, also vor allem Sex & Crime bzw. kiss kiss, bang bang. Mit dem Niedergang der Terza visione-Kinos Ende der 70er Jahre, dem Anstieg der durchschnittlichen Eintrittspreise und dem damit einhergehenden Verschwinden eines bestimmten Stils des Populär- und Genrekinos in Italien, wandelte sich im zeitlichen Abstand auch die Rezeption von Fulcis Filmen. Heute befinden sich – nicht nur in Italien – auch einige Akademiker unter seinen Fans. Und einige seiner Filme sind es durchaus wert, noch einmal gesehen zu werden.


Una sull’altra (1967), von dem in den USA bei dem Label „Severin“ eine gute DVD-Edition erscheinen ist, ist einer dieser Filme und zählt doch zu den eher unbekannten Werken des Regisseurs. Das liegt vielleicht daran, dass er weder Western noch Horrorfilm ist und damit vordergründig etwas aus dem Œuvre des Maestro fällt. Am ehesten lässt sich der Film als Hybrid aus den in Italien zeitweise populären „Film sexy“ und den Gialli bezeichnen, ohne jedoch mit blutigen Morden im Stil Dario Argentos oder Sergio Martinos aufzuwarten. Der Originaltitel verspricht bereits Schlüpfriges und könnte übersetzt werden mit „Eine auf der Anderen”. Der (aktuelle) US-amerikanische Verleihtitel ist noch weniger subtil: Er kündigt gleich eine „Perversion Story“ an, in Deutschland erschien Una sull’altra unter dem spekulativen Dada-Titel „Nackt über Leichen“. Der Plot ist schnell erzählt: Die Ehe des wohlhabenden Arztes George Dumurrier (Jean Sorel) mit der kränklichen Susan (Marisa Mell) befindet an einem Tiefpunkt. Als Susan unter mysteriösen Umständen stirbt, gerät der notorisch untreue Ehemann schnell unter Verdacht. Nach dem Tod seiner Frau lässt sich George im Rotlichtbezirk von San Francisco treiben und lernt dabei eine Stripperin kennen, die seiner verstorbenen Frau wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als weitere Indizien auftauchen, die nahelegen, dass George seine Frau ermordet hat, wird er zum Tode verurteilt. Im letzten Moment kommt ihm der Zufall zu Hilfe ...



Was Una sull’altra heute äußerst reizvoll macht, sind seine manieristischen, extrem überzogenen und oft verblüffenden Stilismen, die ausdrücklich nicht im Dienst eines realistisch-glaubwürdigen filmischen Erzählens stehen. So richtet Fulci eine Vielzahl explizit antinaturalistische Kameraperspektiven ein. Da wäre etwa der „unmögliche“ Blick der Kamera aus einem Kühlschrank heraus auf die Protagonisten; ein irritierend künstlicher Moment, wie er im US-amerikanischen Kino erst mit Filmen wie Blood Simple (1984) von den Coen-Brüdern etabliert wird. In einer anderen Szene blickt die Kamera dann tatsächlich aus dem Fußboden eines Appartements heraus auf die Figuren hinauf, also über eine im Boden des Studios eingelassene Glasplatte. In einer anderen Sequenz wird ein Liebespaar beim Akt durch einen filigranen Stoff gefilmt. Immer wieder verzerren Weitwinkel die vertikalen Linien am Rand des Blickfelds, häufig wird das Geschehen durch Spiegel gefilmt, schnelle Zooms gegen etablierte Sehkonventionen gerichtet eingesetzt und subjektive Einstellungen verwendet, die bisweilen mit Handkamera gefilmt sind. Eine Obduktionssequenz realisiert Fulci mittels Splitscreen, wobei in den einzelnen frames dekorativ Glaskolben und Destillierutensilien drapiert sind, in denen Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens brodeln. Immer wieder werden Bilder streng in zwei Ebenen von gleicher Größe geteilt, mit einer Großaufnahme in der einen und einer Halbtotalen in der anderen Hälfte. Teilweise nutzen Fulci und sein Kameramann Alejandro Ulloa dafür wie Orson Welles und Gregg Toland in Citizen Kane (1941) geschliffene Linsen. Das hierarchisiert die Bilder, veräußerlicht Machtverhältnisse, die sich doch oft als trügerisch erweisen. Am Ende des Films steht dann eine recht konventionelle Auflösung, bei der der tragische, zu unrecht zum Tode verurteilte Ehebrecher ironischerweise durch ein Verbrechen aus Leidenschaft gerächt wird. Aber auch hier gelingt Fulci eine nachhaltige Irritation: Unser Held verschwindet kurz vor dem Ende des Films vollständig aus dem Film. Das letzte Mal erblicken wir George, nachdem er die Gaskammer betreten hat. Dass er überlebt hat, erfahren wir nur aus dem Radio. Das untergräbt das, nun ja, „Happy-End“ des Films und irritiert nachhaltig: Der Protagonist mag nicht tot sein, aber seine vollständige Abwesenheit wirkt doch deutlich gegen die Konventionalität der Auflösung. In einer gewissen Weise ist der untreue Ehemann zumindest im filmischen Raum mit dem Schritt in die Gaskammer gestorben.



Tatsächlich ist Una sull’altra längst nicht so low-brow, wie man zunächst annehmen mag. Insbesondere filmische Querverweise bringt Fulci mit geradezu postmodernem Selbstbewusstsein ein. Da sind etwa die Referenzen auf Michelangelo Antonionis Blow up (1966), wenn die Geliebte des Helden, eine Fotografin, im Atelier Sexbilder im Popart-Stil anfertigt und wie David Hemmings blasierter Fotograf ein Modell beim Fotoshooting verführt. Aus Hitchcocks Universum kommt natürlich der unschuldig verurteilte Held, der selbst lange ambivalent bleibt. Die Bezüge auf einen von Hitchcocks bekanntesten Klassikern sind besonders auffällig, ganz offensichtlich im Handlungsort San Francisco und in der Montage halluzinatorischer Tagtraumsplitter, in denen dem Protagonisten beim Sex mit der Doppelgängerin seiner Frau die bleiche, vermeintlich tot aufgebahrte Ehefrau erscheint. Sieht man von den etwas aufgesetzt wirkenden Sexszenen, der eher zahmen lesbischen Verführungssequenz mit sadomasochistischen Untertönen und den Besuchen in Stripclubs ab, wird offensichtlich, dass Fulci tatsächlich eine italienisierte Sexploitation-Variante von Vertigo (1958) gedreht hat.



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