Sonntag, 25. Januar 2015

Filmgeschichte kompakt: Gian Piero Brunettas “The History of Italian Cinema”



Buchrezension
Gian Piero Brunetta: The History of Italian Cinema. A Guide to Italian Film from Its Origins to the Twenty-First Century

Wer sich mit italienischem Kino beschäftigt, dem wird Gian Piero Brunetta ein Begriff sein. Der an der Universität Padua lehrende Filmhistoriker hat in seinem Heimatland seit Ende der 1960er Jahre eine Vielzahl von Büchern zum italienischen Kino veröffentlicht, unter denen insbesondere die vierbändige „Storia del cinema italiano“ (Rom 1979ff.) als Standardwerk gelten muss. Mit der seit fünf Jahren vorliegenden englischen Übersetzung von Brunettas 2003 im italienischen Original erschienen „Guida alla storia del cinema italiano, 1905-2003“ wird nun ein Teil dieser nationalen Filmgeschichtsschreibung für das englischsprachige Ausland erschlossen.

Im Vergleich zu seiner umfassenden vierbändigen Filmgeschichte ist „The History of Italian Cinema“ als Lehrbuch für Einsteiger und Studenten konzipiert. Das aus über dreißig Jahren Forschung kompilierte Werk bietet mit fünf ausführlichen Kapiteln (S.15-314) einen auch für mit der Materie vertraute Leser lohnenden chronologischen Streifzug durch 100 Jahre italienischer Filmgeschichte; zudem eine Einleitung, in der die Entwicklung der akademischen Filmgeschichtsschreibung in Italien skizziert, der gegenwärtige Forschungsstand dargestellt und wichtige Filmarchive vorgestellt werden (S.1-14); sowie einem kurzen Epilog zum Zustand des gegenwärtigen italienischen Films. (S.315-321)





Kapitel 1 (S.15-66) widmet sich der Stummfilmära von Filoteo Alberinis „La presa di Roma“ (1905), der heute weithin als erster italienischer Spielfilm anerkannt ist, bis zum Ende der 1920er Jahre, als Regisseure wie Alessandro Blasetti und Mario Camerini mit „Sole“ (1929) und „Rotaie“ (1929) eine vom Faschismus inspirierte ,Erneuerung’ des italienischen Films initiierten. Brunetta beschreibt anschaulich das frühe Jahrmarktskino und seine Wurzeln in der commedia dell’arte, das Aufkommen ortsfester Kinos und deren Publikum, schließlich den Aufstieg der italienischen Filmindustrie in den 1910er Jahren mit Genrefilmen und den international erfolgreichen historisch-mythologischen Filmen. Das frühe Starsystem und der divismo werden ebenso thematisiert wie naturalistische Erzählexperimente und der Einfluss der Futuristen und Gabriele D’Annunzios. Zitate aus zeitgenössischen Quellen veranschaulichen die Thesen, kurze Auflistungen von Schlüsselfilmen und Literaturhinweise ermöglichen, wie auch in den folgenden Kapiteln, das erlangte Wissen selbstständig zu vertiefen.





Das zweite Kapitel (S.67-107) zählt zu den spannendsten Abschnitten des Buchs und behandelt die Zeit von den frühen Tonfilmjahren 1928 bis 1945. Der Autor beschreibt den Umbau der italienischen Kinematografie durch das faschistische Regime, welches der nach dem Ersten Weltkrieg darbenden Filmindustrie mittels umfangreicher Fördermaßnahmen zu einer ,Wiedergeburt’ verhalf und ihr erstaunlich viele Freiheiten zugestand. Wertend, aber mit genauem Blick beschreibt Brunetta die widersprüchlichen Karrieren von ,Filmemachern des Regimes’ wie Alessandro Blasetti und Mario Camerini. (S.78ff.) Hinzu kommen Überblicksdarstellungen von Drehbuchautoren und Schauspielern der Ära, Genreanalysen von commedia italiana und telefoni bianchi (der Autor bevorzugt hier den Begriff cinema déco) sowie Darstellungen des Ästhetizismus der calligrafici und des neuen Verismus der 1940er Jahre. (S.85ff.) Zusammen mit den Ausführungen zu italienischen Wochenschauen, Propagandafilmen und einem Abriss der Filmproduktion des faschistischen Marionettenstaats von Salò entsteht ein veritables Stück Filmindustriegeschichte, das Widersprüche nicht einebnet, sondern die Komplexität der historischen Situation nachzuzeichnen versucht.


Kapitel 3 (S.108-166) untersucht die unmittelbaren Nachkriegsjahre und behält trotz einer Fokussierung auf den neorealismo die breite filmindustrielle Perspektive bei. Brunetta spannt den Bogen von der Befreiung bis zum Neuanfang Cinecittàs und den internationalen Erfolgen der späten 1950er Jahren. Dabei gilt ihm das Kino der Nachkriegsjahre sowohl als Spiegel der italienischen Nation als auch als deren Instrument, eine italienische Identität zu formieren und sich außerhalb Italiens neu der Welt zu präsentieren. (S.110f.) Insbesondere der Neorealismus sei ein „[public] diary written by a collective ,I’.“ (S.126) In Miniaturen werden Regisseure wie Roberto Rossellini, Vittorio De Sica, Luchino Visconti und Giuseppe De Santis gewürdigt. (S.131ff.) Mit Ausführungen zur commedia all’italiana, zum peplum, Melodrama und Opernfilm wird auch das Genrekino abgedeckt. (S. 115ff., 148ff., 161ff.) Abschnitte zum Dokumentar- und Animationsfilm vervollständigen das anschauliche Zeitbild der Ära. (S.128ff.)


Kapitel 4 behandelt die Jahre vom ,ökonomischen Wunder’ bis zu den anni di piombo, den ,bleiernen Jahren’ nach 1968. Am Beispiel erfolgreicher Koproduktionen wie „La grande guerra“ („Man nannte es den großen Krieg“; 1959; R: Mario Monicelli) und „La dolce vita“ („Das süße Leben“; 1960; R: Federico Fellini) beschreibt Brunetta die Versuche der italienischen Filmindustrie, Hollywood auf dem Terrain der Genrefilme zu schlagen. In einem langen Unterkapitel werden Horrorfilm (film d’orrore), Italowestern (western all’italiana), Kriminal- und Polizeifilm (film giallo und poliziottesco), politischer Film (filone politico) und Sexfilm dargestellt. (S.198ff.) Bedeutende Autoren wie Federico Fellini, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini und Bernardo Bertolucci werden ebenso wie Geschichtsfilme und politische Filme behandelt. Zudem wird noch einmal die Commedia all’italiana auf ihrem kommerziellen und künstlerischen Höhepunkt thematisiert und in Bezug auf ihre „expressive and linguistic sophistication“ (S.180) sowie die negative Spiegelung der Modernisierungserfahrung diskutiert.

Das fünfte und letzte Kapitel (S.245-314) deckt schließlich den Zeitraum von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart ab: Jahre einer anhaltenden Krise, die mit dem Wegbruch des internationalen Markts und des zunehmenden Verlusts der Marktanteile im heimischen Distributionssektor einherging. „Over the past three decades [...], nearly all of the gains of the 1960s have been irrevocably undone” (S.255), konstatiert Brunetta. Als künstlerischen Tiefpunkt erscheint ihm das „trash cinema“ (S.273ff.), worunter er vor allem die in den 1970er Jahren entstehenden Sexkomödien (commedia sexy) subsumiert. Hier wird ein Problem des Ansatzes offenbar, das italienische Kino als Spiegel der Nation und Repräsentation nach außen zu lesen. Eine Hauptthese des Autors lautet, italienisches Kino sei insbesondere in seinen Schlüsselmomenten, den 1910er Jahren, der Ära des neorealismo und dann wieder in den erfolgreichen 1960er Jahren, „a ,guiding’ art form for Italy, a depository of its memory, history, and national identity.“ Mehr noch: „In the most difficult moments in Italian history, the country’s cinema has served as an ambassador of its culture and creativity.” (S.ix) Angesichts dieser Lesart entsteht der Eindruck, dass Brunetta Autorenfilmer und Genres bevorzugt, die sich für soziologische Interpretationen anbieten; etwas, was für die infantilen film sexy kaum zutrifft, über die Brunetta kaum nachvollziehbar urteilt: „With one swift blow, these [sex] comedies erased all of Italian cinema’s efforts to achieve critical and cultural legitimization.“ (S.274) Ironischerweise wurde mit einer ähnlichen Argumentation in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auch einige neorealistische Filme von Kritikern angegriffen, die durch ihre freizügige Darstellung vermeintlich das Ansehen Italiens in der Welt beschädigten. (Vgl. S.109f.) Das harsche Urteil steht im Widerspruch zu der eingangs formulierten Position des Autors, „every film – no matter how insignificant – contains information and important elements for the understanding of all the histories and complex systems of signification in cinema.” (S.2)


 
So erweist sich auch diese Filmgeschichtsschreibung letztlich als nicht frei von Hierarchisierungen und Vorurteilen, auch wenn der Autor neben den bedeutenden und weniger bedeutenden Regisseuren erfreulicherweise auch die Handwerker der Industrie nicht unterschlägt und zudem auf Kameramänner und Drehbuchautoren, Cutter und Filmmusikkomponisten, Setdesigner und Kostümschneider verweist. Trotz solcher kleinen Kritikpunkte muss „The History of Italian Cinema“ wie Peter Bondanellas fast zeitgleich publiziertes Konkurrenzwerk „A History of Italian Cinema“ (New York: Continuum 2009) als Standardwerk gelten, das Studenten wie Lehrenden, allgemein an Filmgeschichte interessierten wie Fans des italienischen Kinos hilfreich sein wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews

Gian Piero Brunetta: “The History of Italian Cinema. A Guide to Italian Film from Its Origins to the Twenty-First Century”. Princeton, Oxford: Princeton University Press 2009, 385 S., ISBN 978-0691119885, ₤ 24,95 (aus dem Italienischen von Jeremy Parzen, zuerst als „Guida alla storia del cinema italiano, 1905-2003“ [Turino: Einaudi 2003])


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