Buchrezension
Gian Piero Brunetta: The History of Italian Cinema. A Guide to Italian Film from Its Origins to the
Twenty-First Century
Wer sich mit italienischem Kino beschäftigt, dem wird Gian
Piero Brunetta ein Begriff sein. Der an der Universität Padua lehrende Filmhistoriker
hat in seinem Heimatland seit Ende der 1960er Jahre eine Vielzahl von Büchern zum
italienischen Kino veröffentlicht, unter denen insbesondere die vierbändige „Storia del cinema italiano“ (Rom 1979ff.) als Standardwerk
gelten muss. Mit der seit fünf Jahren vorliegenden englischen Übersetzung von
Brunettas 2003 im italienischen Original erschienen „Guida alla storia del
cinema italiano, 1905-2003“ wird nun ein Teil dieser nationalen
Filmgeschichtsschreibung für das englischsprachige Ausland erschlossen.
Im Vergleich zu seiner umfassenden vierbändigen Filmgeschichte
ist „The History of Italian Cinema“ als Lehrbuch für Einsteiger und Studenten
konzipiert. Das aus über dreißig Jahren Forschung
kompilierte Werk bietet mit fünf ausführlichen Kapiteln (S.15-314) einen auch
für mit der Materie vertraute Leser lohnenden chronologischen Streifzug durch
100 Jahre italienischer Filmgeschichte; zudem eine Einleitung, in der die
Entwicklung der akademischen Filmgeschichtsschreibung in Italien skizziert, der
gegenwärtige Forschungsstand dargestellt und wichtige Filmarchive vorgestellt werden
(S.1-14); sowie einem kurzen Epilog zum Zustand des gegenwärtigen italienischen
Films. (S.315-321)
Kapitel 1 (S.15-66) widmet sich der
Stummfilmära von Filoteo Alberinis „La presa di Roma“ (1905), der heute weithin
als erster italienischer Spielfilm anerkannt ist, bis zum Ende der 1920er
Jahre, als Regisseure wie Alessandro Blasetti und Mario Camerini mit „Sole“
(1929) und „Rotaie“ (1929) eine vom Faschismus inspirierte ,Erneuerung’ des
italienischen Films initiierten. Brunetta beschreibt anschaulich das frühe
Jahrmarktskino und seine Wurzeln in der commedia
dell’arte, das Aufkommen ortsfester Kinos und deren Publikum, schließlich den
Aufstieg der italienischen Filmindustrie in den 1910er Jahren mit Genrefilmen und
den international erfolgreichen historisch-mythologischen Filmen. Das frühe Starsystem
und der divismo werden ebenso thematisiert
wie naturalistische Erzählexperimente und der Einfluss der Futuristen und
Gabriele D’Annunzios. Zitate aus zeitgenössischen Quellen veranschaulichen die
Thesen, kurze Auflistungen von Schlüsselfilmen und Literaturhinweise ermöglichen,
wie auch in den folgenden Kapiteln, das erlangte Wissen selbstständig zu vertiefen.
Das zweite Kapitel (S.67-107) zählt zu den spannendsten
Abschnitten des Buchs und behandelt die Zeit von den frühen Tonfilmjahren 1928
bis 1945. Der Autor beschreibt den Umbau der italienischen Kinematografie durch
das faschistische Regime, welches der nach dem Ersten Weltkrieg darbenden Filmindustrie
mittels umfangreicher Fördermaßnahmen zu einer ,Wiedergeburt’ verhalf und ihr erstaunlich
viele Freiheiten zugestand. Wertend, aber mit genauem Blick beschreibt Brunetta
die widersprüchlichen Karrieren von ,Filmemachern des Regimes’ wie Alessandro
Blasetti und Mario Camerini. (S.78ff.) Hinzu kommen Überblicksdarstellungen von
Drehbuchautoren und Schauspielern der Ära, Genreanalysen von commedia italiana und telefoni bianchi (der Autor bevorzugt hier
den Begriff cinema déco) sowie Darstellungen
des Ästhetizismus der calligrafici und
des neuen Verismus der 1940er Jahre. (S.85ff.) Zusammen mit den Ausführungen zu
italienischen Wochenschauen, Propagandafilmen und einem Abriss der Filmproduktion
des faschistischen Marionettenstaats von Salò entsteht ein veritables Stück
Filmindustriegeschichte, das Widersprüche nicht einebnet, sondern die Komplexität
der historischen Situation nachzuzeichnen versucht.
Kapitel 3 (S.108-166) untersucht die unmittelbaren
Nachkriegsjahre und behält trotz einer Fokussierung auf den neorealismo die breite filmindustrielle Perspektive
bei. Brunetta spannt den Bogen von der Befreiung bis zum Neuanfang Cinecittàs und
den internationalen Erfolgen der späten 1950er Jahren. Dabei gilt ihm das Kino der
Nachkriegsjahre sowohl als Spiegel der italienischen Nation als auch als deren Instrument,
eine italienische Identität zu formieren und sich außerhalb Italiens neu der
Welt zu präsentieren. (S.110f.) Insbesondere der Neorealismus sei ein „[public]
diary written by a collective ,I’.“ (S.126) In Miniaturen werden
Regisseure wie Roberto Rossellini, Vittorio De Sica, Luchino Visconti und Giuseppe
De Santis gewürdigt. (S.131ff.) Mit
Ausführungen zur commedia all’italiana,
zum peplum, Melodrama und Opernfilm wird
auch das Genrekino abgedeckt. (S. 115ff., 148ff., 161ff.) Abschnitte zum Dokumentar-
und Animationsfilm vervollständigen das anschauliche Zeitbild der Ära. (S.128ff.)
Kapitel 4 behandelt die Jahre vom ,ökonomischen Wunder’ bis zu den anni di piombo, den ,bleiernen Jahren’ nach 1968. Am Beispiel erfolgreicher Koproduktionen wie „La grande guerra“ („Man nannte es den großen Krieg“; 1959; R: Mario Monicelli) und „La dolce vita“ („Das süße Leben“; 1960; R: Federico Fellini) beschreibt Brunetta die Versuche der italienischen Filmindustrie, Hollywood auf dem Terrain der Genrefilme zu schlagen. In einem langen Unterkapitel werden Horrorfilm (film d’orrore), Italowestern (western all’italiana), Kriminal- und Polizeifilm (film giallo und poliziottesco), politischer Film (filone politico) und Sexfilm dargestellt. (S.198ff.) Bedeutende Autoren wie Federico Fellini, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini und Bernardo Bertolucci werden ebenso wie Geschichtsfilme und politische Filme behandelt. Zudem wird noch einmal die Commedia all’italiana auf ihrem kommerziellen und künstlerischen Höhepunkt thematisiert und in Bezug auf ihre „expressive and linguistic sophistication“ (S.180) sowie die negative Spiegelung der Modernisierungserfahrung diskutiert.
Das fünfte und letzte Kapitel (S.245-314) deckt schließlich
den Zeitraum von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart ab: Jahre einer anhaltenden
Krise, die mit dem Wegbruch des internationalen Markts und des zunehmenden Verlusts
der Marktanteile im heimischen Distributionssektor einherging. „Over
the past three decades [...], nearly all of the gains of the 1960s have been
irrevocably undone” (S.255), konstatiert Brunetta. Als künstlerischen Tiefpunkt erscheint
ihm das „trash cinema“ (S.273ff.), worunter er vor allem die in den 1970er
Jahren entstehenden Sexkomödien (commedia
sexy) subsumiert. Hier wird ein
Problem des Ansatzes offenbar, das italienische Kino als Spiegel der Nation und
Repräsentation nach außen zu lesen. Eine Hauptthese des Autors lautet,
italienisches Kino sei insbesondere in seinen Schlüsselmomenten, den 1910er
Jahren, der Ära des neorealismo und
dann wieder in den erfolgreichen 1960er Jahren, „a ,guiding’ art form for
Italy, a depository of its memory, history, and national identity.“ Mehr
noch: „In the most difficult moments in Italian history, the country’s cinema
has served as an ambassador of its culture and creativity.” (S.ix) Angesichts dieser Lesart
entsteht der Eindruck, dass Brunetta Autorenfilmer und Genres bevorzugt, die
sich für soziologische Interpretationen anbieten; etwas, was für die infantilen
film sexy kaum zutrifft, über die
Brunetta kaum nachvollziehbar urteilt: „With one swift blow, these [sex] comedies
erased all of Italian cinema’s efforts to achieve critical and cultural
legitimization.“ (S.274) Ironischerweise wurde mit einer ähnlichen
Argumentation in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auch einige neorealistische
Filme von Kritikern angegriffen, die durch ihre freizügige Darstellung vermeintlich
das Ansehen Italiens in der Welt beschädigten. (Vgl. S.109f.) Das
harsche Urteil steht im Widerspruch zu der eingangs formulierten Position des
Autors, „every film – no matter how insignificant – contains information and
important elements for the understanding of all the histories and complex
systems of signification in cinema.” (S.2)
So erweist sich auch diese Filmgeschichtsschreibung letztlich
als nicht frei von Hierarchisierungen und Vorurteilen, auch wenn der Autor neben
den bedeutenden und weniger bedeutenden Regisseuren erfreulicherweise auch die
Handwerker der Industrie nicht unterschlägt und zudem auf Kameramänner und
Drehbuchautoren, Cutter und Filmmusikkomponisten, Setdesigner und
Kostümschneider verweist. Trotz solcher kleinen Kritikpunkte muss „The History
of Italian Cinema“ wie Peter Bondanellas fast
zeitgleich publiziertes Konkurrenzwerk „A History of Italian Cinema“ (New York:
Continuum 2009) als Standardwerk gelten, das Studenten wie Lehrenden, allgemein
an Filmgeschichte interessierten wie Fans des italienischen Kinos hilfreich
sein wird.
Dieser Text ist zuerst
erschienen in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews
Gian Piero Brunetta: “The History of Italian Cinema. A Guide to Italian Film from Its Origins to the
Twenty-First Century”. Princeton, Oxford: Princeton
University Press 2009, 385 S., ISBN 978-0691119885, ₤ 24,95 (aus dem
Italienischen von Jeremy Parzen, zuerst als „Guida alla storia del cinema
italiano, 1905-2003“ [Turino: Einaudi
2003])
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