Buchrezension
Manuel Palacio & Jörg Türschmann (Hg.):
„Transnational Cinema in Europe“
Manuel Palacio & Jörg Türschmann (Hg.):
„Transnational Cinema in Europe“
Wer sich mit den nationalen Kinematografien
Europas, ihren Beziehungen untereinander sowie zum globalen Filmmarkt beschäftigt,
muss sich auch mit den seit der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen europäischen
Koproduktionen auseinandersetzen. Das Spannungsfeld zwischen Internationalisierung,
Globalisierung und Lokalisierung im Hinblick auf das europäische Kino ist weit
gefasst, unübersichtlich und bislang nur kursorisch von Film- und
Medienwissenschaft erschlossen. Fragen nach der Relevanz von inter- und
transnationalen europäischen Filmproduktionen und Handelsabkommen für nationale
Kinematografien und die – bis heute nur vage und widersprüchlich bestimmte – europäische
Identität sind zweifellos aktuell.
Der von dem Film- und
Fernsehwissenschaftler Manuel Palacio und dem Romanisten, Literatur- und
Medienwissenschaftler Jörg Türschmann in englischer Sprache herausgegebene
Sammelband Transnational Cinema in Europe
entstand aus einer Zusammenarbeit der Forschungsgruppe TECMERIN (Televisión y
Cine: Memoria, Representación e Industria) der Universität Carlos III de Madrid
und des Institut für Romanistik an der Universität Wien, ist also selbst das Ergebnis
einer innereuropäischen transnationalen Kooperation. Bezogen auf ihren
Untersuchungsgegenstand konstatieren die Herausgeber im Vorwort zutreffend: „The
attempt to produce films for the international market has led to lively
exchange relationships and meeting points between local as well as national
identity discourses and global processes of identity formation“ (S. 7). Vor diesem
Hintergrund gelte, so Palacio und Türschmann: „The static concepts of national
cinema cultures, which have been effective for a long time, are questioned in
the case of co-productions, if not reduced to absurdity“ (S. 7).
Die 13 Einzelaufsätze des
Sammelbandes sind in drei Themenbereiche unterteilt. Die ersten vier Studien behandeln
Grundsatzfragen, Statistiken und Probleme der Lokalisierung fiktionaler Formate
in unterschiedlichen europäischen Ländern („Fundamentals, Databases and
Television“, S. 9-58). Doris Baldruschat konzentriert sich in ihrem Eröffnungsaufsatz
(S. 11-23) auf die in den 1990er Jahren entstehenden internationalen
Koproduktionen mit europäischer Beteiligung und die ihnen zugrunde liegenden Koproduktionsabkommen.
Sie konstatiert einen „gradual shift towards predominantly industrial benefits“
(S. 19), der in einen „neo-liberal turn in cultural production“ (S. 20) mündet,
der ursprünglich kulturprotektionistischen Konzeptionen der beteiligten Nationalstaaten
ebenso entgegenlief wie dem Ziel der Stärkung einer distinktiven europäischen
Filmkultur. Im Aufsatz „Co-Production Archive“ (S. 25-36) widmen sich Carmen
Ciller und Sagrario Beceiro dem Problem, dass nur wenig und selten valide
statistische Daten zu europäischen Koproduktionen vorliegen. Anhand des
Beispiels spanischer Koproduktionen mit europäischer und lateinamerikanischer Beteiligung
entwickeln die Autoren die Skizze einer Koproduktionsdatenbank, die als Modell
für andere europäische Kinematografien dienen kann. Die folgenden Aufsätze von
Manuel Palacio (S. 37-47) und von Concepción Cascajosa Virino (S. 49-58)
untersuchen am Beispiel der spanisch-italienisch-französischen Fernsehserie Pepe Carvalho (1999ff.) und des
spanischen Remakes La chica de ayer
(2009) der britischen Serie Life on Mars
(2006-2007) die Probleme, die sich durch eine grenzüberschreitende, explizit
post-nationale ‚europäische‘ Ausrichtung von Fernsehproduktionen (Pepe Carvalho) bzw. die kulturelle Adaption
und Neuverortung einer klar in einem nationalen Kontext verankerten Produktion (La chica de ayer) ergeben. Insbesondere
Palacio behandelt dabei grundlegende Fragen der Zuschreibung ‚nationaler‘
Zugehörigkeit bzw. einer ‚europäischen Identität‘ an Filmproduktionen. Zugleich
liefern beide Aufsätze einen lesenswerten Abriss der Genese und historischen
Entwicklung des paneuropäischen Film- und Fernsehmarktes.
Camille Gendrault eröffnet den zweiten
Themenblock „The Transnational in Europe“ (S. 59-124) mit einer differenzierten
Darstellung der französisch-italienischen Koproduktionen der Nachkriegszeit im
Spannungsfeld von nationaler Vereinnahmung versus der Promotion von ‚Latinität‘
(S. 61-75). Die Autorin berücksichtigt neben Statistiken Produktion und
Einspielergebnissen in beiden Produktionsländern auch die in Branchenblättern
geführte Diskussion über das Konzept der Koproduktion. Anhand einer Analyse von
Don Camillo / Le petit monde de Don Camillo (1952), der seinerzeit in beiden
Entstehungsländern als nationales Produkt vereinnahmt wurde, zeigt sie, dass
letztlich kein transnationales Publikum für diese Filme entstanden sei: „A
clear distinction needs to be made between transnational productions and
transnational films and (…) any hasty impulses to consider these coproduced
films as the expression of a popular European cinema need to be held in check“,
so Gendraults Fazit (S. 74).
Die folgenden drei Aufsätze setzen
auf die eng umrissene Perspektive der Einzelstudie: Irini Stathi untersucht anhand
von Theo Angelopoulos (unvollendeter) letzter Filmtrilogie Aspekte von
Transnationalität und Geschichte im Werk des griechischen Autorenfilmers (S.
77-91); Juan Carlos Ibáñez widmet sich dem Bild des Spanischen Bürgerkrieges in
Koproduktionen mit spanischer Beteiligung (S. 93-104); Matthias Hausmann
untersucht anhand Oskar Roehlers Elementarteilchen
(2006) die (letztlich gescheiterte) Transponierung der französischen
Romanvorlage von Michel Houellebecq in einen deutschen Kontext.
Die fünf Aufsätze, die unter dem abschließenden
Themenkomplex „The European Global“ (S. 125-195) versammelt sind, öffnen die
Perspektive auf Filme, die über die Grenzen Europas hinausreichen: Ib
Bondebjerg und Eva Novrup Redvall hinterfragen die Existenz eines ‚transnationalen
Skandinaviens‘ und untersuchen Film- und Fernsehproduktionen Schwedens,
Norwegens und Dänemarks im europäischen und globalen Kontext (S. 127-145);
Alberto Elena befasst sich mit den Koproduktionsabkommen zwischen Spanien und
Lateinamerika (S. 147-157); Verena Berger widmet sich „glokalen Strategien“ im
transnationalen Kino Kubas (S. 159-170) und führt den Begriff der „accented
co-productions“ in den Diskurs ein. Abschließend untersucht Miya Komori-Glatz die
australisch-britische Produktion Oranges
and Sunshine (2010) als Beispiel einer kulturell wie produktionstechnisch weitgehend
gleichberechtigt entstandenen Koproduktion (S. 171-182), Jörg Türschmann widmet
sich anhand von The Red Violin (1998)
den Berührungspunkten des kanadischen Kinos mit der europäischen Kultur (S.
183-195) und kommt zu dem Ergebnis, dass gerade die sorgfältig ausgearbeiteten transnationalen
Charakteristiken, die Episodenhaftigkeit und die Mehrfachcodierung des Films eine
‚paradoxe‘ widersprüchliche Rezeption in seinen europäischen und
nordamerikanischen Koproduktionsländern bewirkte: „Canadian film criticism sees
the eclecticism of The Red Violin as
a way to dissociate from US cinema and to place Canadian cinema into the
international market. […] From a European viewpoint, however, the film’s
episodes are fraught with perfectly staged stereotypes which can only stem from
North America, whereas Canada remains invisible“ (S.194).
Alles in allem bietet Transnational Cinema in Europe einen
breiten Überblick in den weit gefassten Untersuchungsgegenstand. Dass auf einen
ausführlichen Einleitungstext verzichtet wurde, der die historische Entwicklung
überblickhaft darstellt, ist schade. Eine explizite Bestimmung des Begriffs des
‚Transnationalen‘ sowie eine Abgrenzung zum vergleichbaren Terminus ‚international‘
bleibt ebenfalls außen vor, was aber einer bewusst offenen Konzeption
geschuldet sein dürfte. Die meisten der Einzelaufsätze machen ihren Untersuchungsgegenstand
überzeugend der übergeordneten Frage nutzbar. Der Genese des Sammelbandes
geschuldet ist die starke Fokussierung auf spanische Produktionen, zu denen bislang
auch internationale nur wenige Studien vorliegen. Insgesamt liegt mit Transnational Cinema in Europe eine stark
auf Einzelaspekte begrenzte, aber ergiebige Aufsatzsammlung zum Thema vor, die
sich vornehmlich an ein mit dem Thema bereits vertrautes Fachpublikum richtet.
Dieser Text ist (in leicht gekürzter
Fassung) zuerst erschienen in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews
Manuel Palacio, Jörg Türschmann
(Hg.): Transnational Cinema in Europe. Wien, Berlin, Münster: Lit 2014
(Beiträge zur europäischen Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Bd. 4), 200
S., ISBN 978-3-643-90478-2, € 29.90
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