Sonntag, 15. November 2015

Kino, grenzüberschreitend: Ein Sammelband zum „Transnational Cinema in Europe“




Buchrezension
Manuel Palacio & Jörg Türschmann (Hg.):
„Transnational Cinema in Europe“

Wer sich mit den nationalen Kinematografien Europas, ihren Beziehungen untereinander sowie zum globalen Filmmarkt beschäftigt, muss sich auch mit den seit der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen europäischen Koproduktionen auseinandersetzen. Das Spannungsfeld zwischen Internationalisierung, Globalisierung und Lokalisierung im Hinblick auf das europäische Kino ist weit gefasst, unübersichtlich und bislang nur kursorisch von Film- und Medienwissenschaft erschlossen. Fragen nach der Relevanz von inter- und transnationalen europäischen Filmproduktionen und Handelsabkommen für nationale Kinematografien und die – bis heute nur vage und widersprüchlich bestimmte – europäische Identität sind zweifellos aktuell.


Der von dem Film- und Fernsehwissenschaftler Manuel Palacio und dem Romanisten, Literatur- und Medienwissenschaftler Jörg Türschmann in englischer Sprache herausgegebene Sammelband Transnational Cinema in Europe entstand aus einer Zusammenarbeit der Forschungsgruppe TECMERIN (Televisión y Cine: Memoria, Representación e Industria) der Universität Carlos III de Madrid und des Institut für Romanistik an der Universität Wien, ist also selbst das Ergebnis einer innereuropäischen transnationalen Kooperation. Bezogen auf ihren Untersuchungsgegenstand konstatieren die Herausgeber im Vorwort zutreffend: „The attempt to produce films for the international market has led to lively exchange relationships and meeting points between local as well as national identity discourses and global processes of identity formation“ (S. 7). Vor diesem Hintergrund gelte, so Palacio und Türschmann: „The static concepts of national cinema cultures, which have been effective for a long time, are questioned in the case of co-productions, if not reduced to absurdity“ (S. 7).

 
Die 13 Einzelaufsätze des Sammelbandes sind in drei Themenbereiche unterteilt. Die ersten vier Studien behandeln Grundsatzfragen, Statistiken und Probleme der Lokalisierung fiktionaler Formate in unterschiedlichen europäischen Ländern („Fundamentals, Databases and Television“, S. 9-58). Doris Baldruschat konzentriert sich in ihrem Eröffnungsaufsatz (S. 11-23) auf die in den 1990er Jahren entstehenden internationalen Koproduktionen mit europäischer Beteiligung und die ihnen zugrunde liegenden Koproduktionsabkommen. Sie konstatiert einen „gradual shift towards predominantly industrial benefits“ (S. 19), der in einen „neo-liberal turn in cultural production“ (S. 20) mündet, der ursprünglich kulturprotektionistischen Konzeptionen der beteiligten Nationalstaaten ebenso entgegenlief wie dem Ziel der Stärkung einer distinktiven europäischen Filmkultur. Im Aufsatz „Co-Production Archive“ (S. 25-36) widmen sich Carmen Ciller und Sagrario Beceiro dem Problem, dass nur wenig und selten valide statistische Daten zu europäischen Koproduktionen vorliegen. Anhand des Beispiels spanischer Koproduktionen mit europäischer und lateinamerikanischer Beteiligung entwickeln die Autoren die Skizze einer Koproduktionsdatenbank, die als Modell für andere europäische Kinematografien dienen kann. Die folgenden Aufsätze von Manuel Palacio (S. 37-47) und von Concepción Cascajosa Virino (S. 49-58) untersuchen am Beispiel der spanisch-italienisch-französischen Fernsehserie Pepe Carvalho (1999ff.) und des spanischen Remakes La chica de ayer (2009) der britischen Serie Life on Mars (2006-2007) die Probleme, die sich durch eine grenzüberschreitende, explizit post-nationale ‚europäische‘ Ausrichtung von Fernsehproduktionen (Pepe Carvalho) bzw. die kulturelle Adaption und Neuverortung einer klar in einem nationalen Kontext verankerten Produktion (La chica de ayer) ergeben. Insbesondere Palacio behandelt dabei grundlegende Fragen der Zuschreibung ‚nationaler‘ Zugehörigkeit bzw. einer ‚europäischen Identität‘ an Filmproduktionen. Zugleich liefern beide Aufsätze einen lesenswerten Abriss der Genese und historischen Entwicklung des paneuropäischen Film- und Fernsehmarktes.

  
Camille Gendrault eröffnet den zweiten Themenblock „The Transnational in Europe“ (S. 59-124) mit einer differenzierten Darstellung der französisch-italienischen Koproduktionen der Nachkriegszeit im Spannungsfeld von nationaler Vereinnahmung versus der Promotion von ‚Latinität‘ (S. 61-75). Die Autorin berücksichtigt neben Statistiken Produktion und Einspielergebnissen in beiden Produktionsländern auch die in Branchenblättern geführte Diskussion über das Konzept der Koproduktion. Anhand einer Analyse von Don Camillo / Le petit monde de Don Camillo (1952), der seinerzeit in beiden Entstehungsländern als nationales Produkt vereinnahmt wurde, zeigt sie, dass letztlich kein transnationales Publikum für diese Filme entstanden sei: „A clear distinction needs to be made between transnational productions and transnational films and (…) any hasty impulses to consider these coproduced films as the expression of a popular European cinema need to be held in check“, so Gendraults Fazit (S. 74).

 
Die folgenden drei Aufsätze setzen auf die eng umrissene Perspektive der Einzelstudie: Irini Stathi untersucht anhand von Theo Angelopoulos (unvollendeter) letzter Filmtrilogie Aspekte von Transnationalität und Geschichte im Werk des griechischen Autorenfilmers (S. 77-91); Juan Carlos Ibáñez widmet sich dem Bild des Spanischen Bürgerkrieges in Koproduktionen mit spanischer Beteiligung (S. 93-104); Matthias Hausmann untersucht anhand Oskar Roehlers Elementarteilchen (2006) die (letztlich gescheiterte) Transponierung der französischen Romanvorlage von Michel Houellebecq in einen deutschen Kontext.  

Die fünf Aufsätze, die unter dem abschließenden Themenkomplex „The European Global“ (S. 125-195) versammelt sind, öffnen die Perspektive auf Filme, die über die Grenzen Europas hinausreichen: Ib Bondebjerg und Eva Novrup Redvall hinterfragen die Existenz eines ‚transnationalen Skandinaviens‘ und untersuchen Film- und Fernsehproduktionen Schwedens, Norwegens und Dänemarks im europäischen und globalen Kontext (S. 127-145); Alberto Elena befasst sich mit den Koproduktionsabkommen zwischen Spanien und Lateinamerika (S. 147-157); Verena Berger widmet sich „glokalen Strategien“ im transnationalen Kino Kubas (S. 159-170) und führt den Begriff der „accented co-productions“ in den Diskurs ein. Abschließend untersucht Miya Komori-Glatz die australisch-britische Produktion Oranges and Sunshine (2010) als Beispiel einer kulturell wie produktionstechnisch weitgehend gleichberechtigt entstandenen Koproduktion (S. 171-182), Jörg Türschmann widmet sich anhand von The Red Violin (1998) den Berührungspunkten des kanadischen Kinos mit der europäischen Kultur (S. 183-195) und kommt zu dem Ergebnis, dass gerade die sorgfältig ausgearbeiteten transnationalen Charakteristiken, die Episodenhaftigkeit und die Mehrfachcodierung des Films eine ‚paradoxe‘ widersprüchliche Rezeption in seinen europäischen und nordamerikanischen Koproduktionsländern bewirkte: „Canadian film criticism sees the eclecticism of The Red Violin as a way to dissociate from US cinema and to place Canadian cinema into the international market. […] From a European viewpoint, however, the film’s episodes are fraught with perfectly staged stereotypes which can only stem from North America, whereas Canada remains invisible“ (S.194).

 
Alles in allem bietet Transnational Cinema in Europe einen breiten Überblick in den weit gefassten Untersuchungsgegenstand. Dass auf einen ausführlichen Einleitungstext verzichtet wurde, der die historische Entwicklung überblickhaft darstellt, ist schade. Eine explizite Bestimmung des Begriffs des ‚Transnationalen‘ sowie eine Abgrenzung zum vergleichbaren Terminus ‚international‘ bleibt ebenfalls außen vor, was aber einer bewusst offenen Konzeption geschuldet sein dürfte. Die meisten der Einzelaufsätze machen ihren Untersuchungsgegenstand überzeugend der übergeordneten Frage nutzbar. Der Genese des Sammelbandes geschuldet ist die starke Fokussierung auf spanische Produktionen, zu denen bislang auch internationale nur wenige Studien vorliegen. Insgesamt liegt mit Transnational Cinema in Europe eine stark auf Einzelaspekte begrenzte, aber ergiebige Aufsatzsammlung zum Thema vor, die sich vornehmlich an ein mit dem Thema bereits vertrautes Fachpublikum richtet.
  
Dieser Text ist (in leicht gekürzter Fassung) zuerst erschienen in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews

 
Manuel Palacio, Jörg Türschmann (Hg.): Transnational Cinema in Europe. Wien, Berlin, Münster: Lit 2014 (Beiträge zur europäischen Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Bd. 4), 200 S., ISBN 978-3-643-90478-2, € 29.90

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