„The Hateful Eight”
(USA 2015; Regie: Quentin Tarantino)
Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so breitbeinig-großspurig inszeniert wie durch die Beschränkungen der Handlungsorte begrenzt. Die theatral anmutende Hauptbühne des grellen Schauerstücks: Minnie‘s Haberdashery, ein „Kurzwarengeschäft“, in dem es alles, wirklich alles, nur eben keine Kurzwaren gibt. Den klaustrophobischen Handlungsort fotografiert Tarantinos Stammkameramann Robert Richardson im luxuriös-verschwenderischen Breitwandformat Ultra Panavision 70, mit auffällig gesetzten Lichtspots, die nie glaubwürdig eine Motivation durch den filmischen Realismus behaupten. Das Format kam in der Filmgeschichte bislang gerade zehn Mal zum Einsatz, unter anderem für monumentale Extravaganzen wie William Wylers „Ben-Hur“ (1959) und Anthony Manns „The Fall of the Roman Empire“ („Der Untergang des Römischen Reichs“; 1964) – für ein Quasikammerspiel wie „The Hateful Eight“ ist das ein ziemlich teurer Witz auf Kosten der Filmgeschichte, aber durchaus schön anzusehen.
Natürlich
ist auch Minnie‘s
Haberdashery ein alles andere als karger Ort, sondern
vielmehr ein barock überladener multifunktionaler und überdimensionierter
Tante-Emma-Laden mit Eisen- und Süßwarenabteilung, angeschlossener Bar, Lounge
und Saloon, primitivem Restaurant und Ruhebereich (komplett mit Federbett). Als
sozialer Raum ist diese aus groben Bretterbohlen zusammengenagelte zugige
Monstrosität, durch deren Ritzen die Schneeflocken des vor der Tür tobenden
Sturms in pittoresken Lichtbahnen tanzen, eine Miniatur der amerikanischen
Gesellschaft und der Gemeinheiten, die sie hervorbringt. Das ist naheliegend
und wurde ähnlich schon mit den offensichtlichen Vorbildern, der Wüstentaverne
in Sergio Leones „C’era una volta il West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“; 1968)
und deren dreißig Jahre älterem funktionalem Vorbild, der Kutsche in John Fords
Klassiker „Stagecoach“ („Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fé“; 1939), betrieben. Bei
Ford ging es um das amerikanische Bürgertum – repräsentiert u.a. durch einen
korrupten Bankier, eine aufrichtige Prostituierte, eine bigotte Gesellschaftsdame,
einen versoffenen Arzt und das von John Wayne gespielte virile Ringo Kid. Auf engstem
Raum zusammengepfercht mussten sie in Kriegszeiten sich gegen den Feind im Inneren
wie außen bewähren (um die Kutsche tobt ein Indianerkrieg, drinnen sitzen die
Verräter, in der außerfilmischen Realität erschüttert der Zweite Weltkrieg die
Menschheit).
Tarantino, der sich bevorzugt mit postklassisch/postmoderner Wendung auf
die Filmgeschichte bezieht, arbeitet sich nach „Django Unchained“ freilich ein
weiteres Mal an einer filmischen Meditation über „Rasse“ und Klasse, Nord und Süd, Mord und
Totschlag, Freund- und Feindschaft ab. Dabei bezieht er sich explizit auf die Dekonstruktion des Westerngenres in Europa, wo Regisseure wie Sergio
Leone und Sergio Corbucci Fords Western nach dem Krieg für sich entdeckten, um
im Anschluss das Genre mit Hohn und Spott, Blut und Gewalt noch einmal neu zu erfinden
und zugleich zu beerdigen. Wenn man so will, verfährt Tarantino nun mit
Corbucci und Leone wie diese einst mit Ford und dem klassischen Western: Der
Re-Lektüre folgen Anverwandlung und Umdeutung, bald Übersteigerung und Parodie,
schließlich auch Threnodie oder absoluter Nihilismus. „The Hateful Eight“
betreibt all das, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber in ein und demselben
Film. Als cineastische Exkursion in die Höhen und Untiefen der Filmgeschichte
ist „The Hateful Eight“, wie kaum anders zu erwarten, ein Film mit mehrfacher Metaebene;
auch, aber nicht ausschließlich, vor der Folie der Filmgeschichte zu lesen. Die
wesentlichen Bezüge neben den bereits genannten, sind mal seriös, mal eher von
den Rändern der Filmgeschichte geräubert: etwa von Archie Mayos
Gangstermelodram „The Petrified Forest“ („Der versteinerte Wald“; 1936) und
John Frankenheimers Eugene-O'Neill-Adaption „The Iceman Cometh“ (1973); von den
nihilistischen Splatter-Eurowestern „Il grande silenzio“ („Leichen pflastern
seinen Weg“, 1968; Sergio Corbucci) und „Condenados a vivir” („Todesmarsch der
Bestien“; 1972; Joaquín Luis Romero Marchent); aber auch von späten Genre-Crossovers
wie John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982) und
Antonia Birds „Ravenous“ (1999) oder dekadenten Hochglanzausstattungsfilmen wie
Sidney Lumets schillerndem All-Star-Cast-Mystery
„Murder on the Orient Express“ („Mord im Orient-Express“; 1974).
Wie bei Ford wird die Zwangsgesellschaft der „Hateful Eight“ von außen
wie aus der Gemeinschaft heraus bedroht – draußen tobt ein Blizzard, drinnen herrscht
das Motto „Jeder gegen Jeden und Gott gegen alle“. Alle sind hier
Falschspieler, tragen falsche Namen und Aliase, lassen gefälschte Briefe
kreisen und erzählen sich falsche (oder zumindest fragwürdige) Geschichten. Kurz:
Sie sind Geschichtenerzähler, besessen davon zu reden – und sei es, dass sie
sich dabei um Kopf und Kragen bringen. Selbst der filmische Raum lügt und
erzählt demjenigen eine Geschichte, der die Zeichen zu lesen vermag: Unter dem
Bretterboden liegt ein zweiter Raum (wir wollen an dieser Stelle besser nicht
zu viel erzählen) und eine verräterische Spur aus Jelly Beans liefert einmal ein wichtiges Indiz, um einen Verräter
zu enttarnen.
Es ist eine kuriose und mit galligem Witz überzeichnete Gesellschaft,
die sich in der grotesken Herberge eingefunden hat. Da wäre etwa der von Kurt
Russell gespielte Kopfgeldjäger John „The Hangman“ Ruth, ein in einen speckigen
Bärenfellmantel gewickelter Trampel, der sich in jeder gesellschaftlichen
Interaktion wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt und niemandem außer sich
selbst traut. Oder der von Sam Jackson gespielte ehemalige Ex-Nordstaatensoldat
Major Marquis Warren, der als schwarzer Kopfgeldjäger bevorzugt Weiße tötet, Hercule
Poirots Deduktionsgabe mit Sadismus und Blutdurst vereint und einmal eine
unfassbare Geschichte über sexuelle Gewalt und fehlgeleitete Rache erzählen
wird, deren filmische Bebilderung zum Geschmacklosesten zählt, was Tarantino in
seiner ganzen Karriere inszeniert hat. Hinzu kommt ein wieseliger Redneck
(Walton Goggins – die unterhaltsamste der Figuren), der als Outlaw-turned-Sheriff
sich noch nicht ganz in seine den Rechtstaat tragende neue Rolle gefunden hat; und
ein wortkarger Mexikaner (stoisch bis zur Versteinerung: Demián Bichir).
Komplettiert wird das Ensemble durch einen affektierten Henker mit lächerlichem
britischen Akzent und dubiosen rechtsphilosophischen Ansichten, den Tim Roth
als grandiose Parodie auf Christoph Waltz angelegt; den schmierigen
Cowboy-Outlaw Joe Gage (Michael Madsen), der wie eine schlecht gealterte
Ausgabe von Waynes Ringo Kid wirkt, im Alter fett, träge und gemein geworden; sowie
einen zauselhaften alten Südstaatengeneral, gespielt von Bruce Dern, der einst
in Mark Rydells „The Cowboys“ (1972) Filmgeschichte schrieb, als er den „Duke“ John Wayne erschießen durfte. Mittendrin und
nur scheinbar außen vor: die aasige Banditenkönigin Daisy Domergue (Jennifer
Jason Leigh), um die die Handlung kreist und die in ihrer Hyänenhaftigkeit
bestens zum restlichen Personal passt. Was alle eint, sind Niedertracht und
Gehässigkeit, Rachsucht und Boshaftigkeit, Rassismus, Menschenhass und
Zynismus. Wenn die skurrile Post-Sezessionskriegsgemeinschaft die zugige Hütte unter
sich aufteilt, um abermals eine Grenze zwischen Nord und Süd zu ziehen, dann
verweist das wie der grassierende Rassismus und die Misogynie weniger auf das
historische Amerika um 1870, als auf den großen Graben, den Tea Party,
Polit-Populisten wie Trump und die ausufernde Polizeigewalt gegen Minderheiten
in den letzten Jahren aufgerissen haben.
Als
Spektakel wird „The Hateful Eight“ mit seiner ausufernden Laufzeit von 167
Minuten – in der 70mm-Roadshow-Version sogar auf 187 Minuten gedehnt – für das
große Publikum aber doch wohl eine Enttäuschung. Sicher, die ersten, fast
ausschließlich von Dialogen und Morricones düsterem Score akzentuierten zwei
Stunden sind als Abfolge geschliffenen Parlierens höchst unterhaltsam, kommen mitunter
nahe an dem absurden Humor von Monty Python. Dann aber beginnt das große
Sterben – und das wird so lang und qualvoll inszeniert wie einst in Tarantinos
Debüt „Reservoir Dogs“ („Wilde Hunde“; 1992). Der Wechsel in Tonalität und
Tempo, auch eine spät nachgereichte, für sich genommen zwar überragend
inszenierte Rückblende, in der die Vorgeschichte erzählt wird, tun dem Film strukturell
leider nicht gut. Schon bei „Django Unchained“ (2012) gab es einige Längen –
das Splatstick-Finale war einfach zu viel des Guten, wirkte wie ein überflüssiges
Addendum und Zeichen einer bislang ungekannten Unentschlossenheit dieses Filmemachers,
der mit „Inglourious Basterds“ 2009 sein definitives Meisterwerk abgeliefert
hat. Auch die rassistischen Grenzüberschreitungen, die er seitdem wie besessen
als performative Akte in seinen Filmen ausagieren lässt, haben sich längst auf
unangenehme Weise verselbstständigt. Hier läuft Tarantino Gefahr, zu seiner
eigenen Parodie zu werden.
Wo
die gefühlt hundertste Erwähnung des ätzenden „Nigger“-Wortes ihre Wirkung
verfehlt, ist es diesmal die exzessive Gewalt gegen die einzige relevante
Frauenfigur des Films, die in diesem wortgewaltigen Affektkino darauf angelegt
ist, dem Kinopublikum eine dezidiert körperliche Reaktion abzuringen. Jennifer
Jason Leighs Daisy bekommt mal die Faust ins Gesicht gedroschen, dann den
Ellbogen aufs Auge, darf Zähne spucken und wird nach und nach zu blutigem Brei geschlagen.
Das ist so konsequent wie schrecklich und bündelt im Guten wie im Schlechten
das Progressive und Reaktionäre des Filmemachers Tarantino. Denn einerseits ist
Daisy Domergue auf Augenhöhe mit den verwilderten Männern dieses Films: von
rasender Wut und lauernder Kraft, mindestens so zäh und boshaft wie die Kerle und
in ihrem unbedingten Überlebenswillen wohl auch die vernünftigste Figur im
ganzen Ensemble. Wenn Leigh in der Kutsche den Ellbogen ihres Bewachers ins
Gesicht gehämmert bekommt, dann legt die Schauspielerin in ihre anschließende
Großaufnahme einen ganzen Strauß widersprüchlicher Regungen hinein: Wut und
Trotz, Stolz und Überheblichkeit, Schmerz und Übelkeit, Hass und dunkle Erotik.
Mal wirkt sie wie eine bleiche Geistererscheinung aus Kaneto Shindos
expressivem Geister-Chanbara „Onibaba“ (1964), dann wieder so animalisch wie
die Männer, wenn sie das Blut von ihren Lippen leckt, Schneeflocken mit offenem
Mund isst oder Zähne durch den Raum spuckt. Aber so stark diese Figur trotz
ihrer Ketten ist, der Film, der als groteske Komödie beginnt und als blutiger
Körperhorror endet, degradiert sie letztlich doch über weite Strecken zum
menschlichen Sandsack. Im Gegensatz zu Jamie Foxx‘ Django darf Daisy nie ihre
Ketten verlieren.
In
der Schlusseinstellung – und wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte an
dieser Stelle aufhören zu lesen – gelingt es Tarantino tatsächlich, in einem
Bild fast alles zusammenzubringen, was sein Kino ausmacht: Grenzüberschreitung
und Genrevermischung, den reaktionären und selbstgerechten Aufstand eines äußerst
begabten Autodidakten gegen den Mainstream, dessen Teil er längst geworden ist,
zugleich aber auch so etwas wie „kritisches“ Filmemachen. Wenn Daisy nach einem
bösartigen Akt der frontier justice
blutbesudelt vom Deckenbalken baumelt, darunter die feixenden, selbst
sterbenden Männer, die auf dem Bett langsam ausbluten, dann ist sie eine Wiedergängerin
des Gekreuzigten, der als Hommage an Sam Fullers Kriegsfilm „The Big Red One“
(1980) den Film in Großaufnahme eröffnet. Ihr grausamer Tod überhöht Daisy und
verleiht ihr zudem den Rang einer Sozialbanditin. Es waren
in den Filmen des von Tarantino immer wieder bis in Einzelbilder zitierten Sergio
Leone (ebenso wie grundsätzlich im Westerngenre) ja immer die outcasts und Proletarier, die
aufgeknüpft werden, die Aufwiegler, Egomanen und Anarchisten. Hängen war im
viktorianischen England, auf das auch Roths Henker-Figur verweist, die Strafe
für wiederholtes Betteln, in B. Travens Abenteuerromanen das Folterinstrument
der imperialistischen Herrschaft gegen die indigenen Rebellen. Man hängte
Aufrührer, Volkshelden; Menschen, deren Tod ausgestellt werden soll, um die Sanktion
ins öffentliche Bewusstsein zu hämmern. Dass die männlichen Zeugen der
Hinrichtung, zugleich selbsternannte Richter und Henker, selbst sterben, gerät im
nihilistischen Kosmos dieses Films fast schon zu einem Moment der Hoffnung. Zugleich
bringt diese höchst ambivalente Einstellung etwas auf den Punkt, das
zentral im Westerngenre und im Subgenre des Buddy
Movies steht, aber so offen und übereindeutig nie ausgestellt werden durfte:
der (selbst dem Tod geweihte) Männerbund konstituiert sich allem voran aus der Vernichtung der Frau. Das mag man
widerlich finden, es zerrt aber auch eine verdeckte Wahrheit des Kinos ins
Licht.
Dieser Text ist zuerst erschienen auf www.filmgazette.de
THE HATEFUL
EIGHT aka THE H8FUL EIGHT aka THE HATEFUL 8 (USA 2015)
Regie: Quentin Tarantino; Drehbuch: Quentin Tarantino; Produktion: Richard N. Gladstein, Shannon McIntosh, Stacey Sher; Kamera: Robert Richardson; Schnitt: Fred Raskin; Musik: Ennio Morricone; Verleih: Universum; Kinostart (D): 28.01.2016; FSK: ab 16 Jahre; Länge: 167 Min. bzw. 187 min.; Besetzung: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Walton Goggins, Tim Roth, Michael Madsen, Bruce Dern, Demián Bichir, James Parks, Channing Tatum, Zoé Bell u.a.
Regie: Quentin Tarantino; Drehbuch: Quentin Tarantino; Produktion: Richard N. Gladstein, Shannon McIntosh, Stacey Sher; Kamera: Robert Richardson; Schnitt: Fred Raskin; Musik: Ennio Morricone; Verleih: Universum; Kinostart (D): 28.01.2016; FSK: ab 16 Jahre; Länge: 167 Min. bzw. 187 min.; Besetzung: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Walton Goggins, Tim Roth, Michael Madsen, Bruce Dern, Demián Bichir, James Parks, Channing Tatum, Zoé Bell u.a.
Und hier noch der Trailer via YouTube:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen