Sonntag, 11. Januar 2009

Märchen für Erwachsene: Georges Franjus LES YEUX SANS VISAGE


LES YEUX SANS VISAGE / OCCHI SENZA VOLTO (DAS SCHRECKENSHAUS DES DR. RASANOFF) – F-I 1960 – Regie: Georges Franju – Produzent: Jules Borkon – Kamera: Eugen Schüfftan – Schnitt: Gilbert Natot – Musik: Maurice Jarre – Drehbuch: Pierre Boileau, Thomas Narcejac, Jean Redon, Claude Sautet, Pierre Gascar, nach einer Vorlage von Jean Redon – Darsteller: Pierre Brasseur (Docteur Génessier), Alida Valli (Louise), Edith Scob (Christiane Génessier), François Guérin (Jacques Vernon), Alexandre Rignault (Inspector Parot) u. a. – Länge: ca. 88 min. – Format: Schwarzweiß, Breitwand 1.66:1 – DVD: Criterion USA (als EYES WITHOUT A FACE)


Franjus erstaunlich hell ausgeleuchtetes Werk (Kamera: Eugen Schüfftan!) steht vom Plot her noch ganz in der Tradition des klassischen, romantischen Horrorfilms der 1930er Jahre, wobei insbesondere James Whales FRANKENSTEIN (1931) für die Erzählhaltung bedeutend gewesen sein dürfte. So ist es nicht etwa die entstellte Protagonistin (Edith Scob), die hier als Monster erscheint, sondern letztlich ihr an die Figur des Mad Scientist angelegter Vater (Pierre Brasseur). Entsprechend setzt Franju das zerstörte Gesicht der jungen Frau nicht als Schockeffekt ein: Er zeigt es lediglich einmal in einer unscharfen Subjektive. So bleiben die „Augen ohne Gesicht“, die der Originaltitel verspricht, etwas Ungreifbareres, eine Leerstelle, ein Schrecken, der ganz auf der Fantasie des Zuschauers beruht, und dadurch wahrscheinlich nachhaltiger wirkt als die besten Make-up-Effekte.


Die atmosphärische, leicht altmodische Note des Films wird verstärkt durch märchenhafte, aber zumeist vertraute Motive des Unheimlichen: ein scheinbar verwunschenes Haus im Wald (mit einem Keller voller wilder Tiere), ein einsamer Friedhof im Mondschein, eine Klinik, in der Seltsames vor sich geht, eine kleine Polizeistation unterm Dach eines windschiefen Häuschens etc. Manches davon wirkt schrullig, anderes bedrohlich, vieles schwarzromantisch. Einen wesentlichen Unterschied zum klassischen Horrorfilm markieren jedoch nachdrücklich zwei Sequenzen (ähnlich wie es für Mario Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO aus dem gleichen Jahr gilt): Da ist einmal eine detailliert gezeigte blutige Gesichtsoperation, die auch heute noch schwer anzusehen ist, und insbesondere in einem Film von Anfang der 1960er Jahre überrascht. Die zweite, ebenfalls sehr lange ausgespielte Sequenz ereignet sich gegen Ende des Films und zeigt, wie der monströse Vater von den eigenen Versuchstieren, einer Meute von Hunden, zerfleischt wird. Es ist dieser explizite Zeigegestus in Bezug auf die Zerstörung von menschlichen Körpern, der den Film ästhetisch sowohl als europäischen Genrefilm wie auch als modernen Horrorfilm ausweist. Zum Meilenstein des Genres wird er aber durch seine traumhaft-surreale Märchenstimmung, die effektiv von Maurice Jarres Musik unterstützt wird. Insbesondere das mit der Tochter verbundene, fast mittelalterlich gemahnende Thema lässt einen geradezu im Bild nach dem Moritatensänger suchen. Alles zusammengenommen wirkt LES YEUX SANS VISAGE ein wenig wie Jean Cocteaus LA BELLE ET LA BÊTE (1946) – mit Splatterszenen und zum Albtraumhaften verschoben.


Wie sorgfältig der Film konstruiert ist, zeigt sich darin, dass sein eigentliches Thema – der Gegensatz von erster Erscheinung und wahrem Wesen, von Fassade und Inhalt, Oberfläche und Tiefenstruktur – letztlich auch durch die Lichtsetzung veräußerlicht wird: Je heller es in diesem Film ist, desto schrecklichere Dinge geschehen gerade.



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