Dienstag, 11. November 2008

Tod, Elend und Slapstick: Monicellis I SOLITI IGNOTI

I SOLITI IGNOTI (etwa: Die üblichen Unbekannten)

(BIG DEAL ON MADONNA STREET / DIEBE HABEN'S SCHWER)

Mario Monicelli

I 1958

DVD (Criterion, USA), FS, OmU, b/w

*****


Eine weitere Komödie italienischer Art von Monicelli, an der sich gut die Berührungspunkte von Neorealismo und Commedia all’italiana in den 50er Jahren belegen lassen. Die Hauptfiguren, bestenfalls Helden des Alltags, sind arme Schlucker, stark typisiert und ihr Lebensumfeld ein zentrales Interesse des Films. Da ist der sizilianische Macho (Tiberio Murgia), der mit extremer Eifersucht über seine Schwester wacht (fast noch schöner als sonst: Claudia Cardinale in ihrer dritten Kinorolle); ein alleinerziehender Vater (Marcello Mastroianni), dessen Frau im Knast sitzt und ein ehrlicher Boxer (Vittorio Gassman), der bei der ersten Gelegenheit zum Dieb wird, damit er nicht arbeiten muss. Hinzu kommen ein komischer Alter (Totò), stets auf der Suche nach Essbarem und ein kleiner Dieb (Renato Salvatori), der sich in die Schwester des Sizilianers verliebt. Mit seiner expressiv agierenden Ensemble-Cast hält Monicelli immer die Wage zwischen Lächerlichem und Tragik, dummdreister Verbohrtheit und verletzter, aber doch intakter Würde. Insbesondere die wunderschöne Carla Gravina als Nicoletta bringt ein utopisches Moment in den Film; eine Hoffnung, für die auch der größte Umweg gerechtfertigt erscheint.


Der Humor des Films reicht von sorgfältig getimtem Slapstick bis zum nahtlosen Übergang von Komik in Schock, wobei die hier stärker als in LA GRANDE GUERRA zur Strukturierung des Films eingesetzten Zwischentitel deutlich auf die frühe Stummfilmkomödie verweisen. Insbesondere der an Dassins DU RIFIFI CHEZ LES HOMMES (1955) angelehnte Caper ist beispielhaft gelungen. Hier geht auch wirklich alles schief, was schiefgehen kann und letztlich bleibt vom intendierten Meisterverbrechen nur ein bloßer Akt des überkompliziert ausgeführten Mundraubs. In einer Nebenhandlung, die den Hauptplot variiert, folgen wir einem glücklosen Dieb bei seinen zahllosen Raubversuchen. Selbst der Versuch, mit vorgehaltener Pistole einen Pfandleiher zu berauben, geht schief: „Weißt du was das ist?“, raunt er drohend, und schiebt die Pistole unter der eingeschlagenen Zeitung heraus. Doch der Pfandleiher langt einfach über den Tresen, reißt ihm die Waffe aus der Hand, mustert sie abfällig und erwidert, sicher wisse er, was das ist; eine kleinkalibrige Beretta, in sehr schlechtem Zustand: „1000 Lire.“ Als wir dem Dieb dann bei seinem nächsten Versuch begegnen, diesmal dabei, mit dem Fahrrad einer Hausfrau die Handtasche zu rauben, erwarten wir eine weitere Slapstick-Szene. Und tatsächlich beginnt die Frau sich sogleich lautstark zu wehren, vertreibt den abermals gedemütigten und verhinderten Dieb. Er dreht sich um, rennt los – und wird direkt von der Straßenbahn erfasst. Schnitt zum Begräbnis. Die italienische Komödie bestimmt, wie schon erwähnt, eine Neigung zur Grausamkeit, oder besser: zur Härte. Lachen und Trauer, Komik, Elend und Tod, Spott und Zuneigung, Verachtung und Wertschätzung, Stärke und Schwäche; all das trennt hier oft gerade mal ein Schnitt. Besonders macht diese Filme ihre wohl auch politisch inspirierte Zuneigung zu den Deklassierten, die hier, ohne sie zu überhöhen oder zu verklären, in all ihrer Schäbigkeit doch als zutiefst menschliche, rührende und gleichsam rührselige Individuen erscheinen. Für die Oberschicht, die Monicellis Anti-Helden berauben wollen, interessiert sich der Regisseur keinen Deut. Für das Drama der einfachen Leute, also der üblichen Unbekannten [= i soliti ignoti], die der Film schon im Titel trägt, aber umso mehr.



Aufstieg zum Misserfolg: THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI

THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI
(DIE BRÜCKE AM KWAI)
David Lean
UK-USA 1957
DVD (Sony Pictures, Deutschland), Scope, OF, restaurierte Fassung
***(*)

Die letzten Worte des Films: „Madness! Madness!“ Und irgendwie beschleicht einen das Gefühl, damit sei weder der Krieg noch die Regelversessenheit der britischen Offizierskaste oder gar die Grausamkeit der japanischen Soldateska gemeint, sondern da würde auch ein wenig Selbstbezichtigung darin liegen. Leans Filmstil schien ab einem gewissen Punkt seiner Karriere nicht mehr ohne gigantischen Aufwand zu rechtfertigen. Auch hier füllt das Statistenheer als Masse den Bildkader aus, die Brücke selbst ist gigantisch, ein echter Zug muss freilich auch her für die letzte Sequenz.
Sicherlich, das ist alles brillant gefilmt, insbesondere die tiefenscharfen Totalen (70mm!), so ganz auf die große Kinoleinwand ausgelegt, dass selbst die Stars mitunter verschwindend klein erscheinen. Andererseits ist es aber auch reichlich grotesk, über eine Stunde dem heroischen Kampf eines britischen Offiziers in japanischer Kriegsgefangenschaft zu folgen, der dafür eintritt, dass britische Offiziere nicht arbeiten müssen – alle anderen seiner Soldaten aber schon. Das ist sicherlich ironisch intendiert, geht es hier doch um das sinnlose Streben zum Höheren. Der große Jean-Pierre Melville sagte einmal in einem Interview: „Es gibt immer eine Brücke am Kwai, die in der Tiefe meines Herzens ruht. Ich mag nutzlose Anstrengungen sehr. Der Aufstieg zum Mißerfolg ist eine ganz und gar menschliche Sache. […] Der Mensch geht von Erfolg zu Erfolg unentrinnbar auf sein letztes Scheitern zu.“ (in: Jean-Pierre Melville, Reihe Film Bd. 27, 1982, S. 85f.). Das ist die philosophisch-allegorische Ebene von Leans Films. Seine Zeichnung der Japaner jedoch ist, sagen wir einmal: ganz der Zeit verhaftet. Nicht, dass die Japaner hier dämonisiert werden würden. Das Problem ist vielmehr, dass sie bis auf den Ranghöchsten Colonel Saito (Sessue Hayakawa) als eine gesichtslose Masse erscheinen und grundsätzlich als inkompetent und unfähig porträtiert werden. Weder der japanische Architekt, noch die Offiziere erscheinen je auch nur ansatzweise fähig, die Brücke zu bauen. Dafür braucht es die „zivilisierten“ Briten. Die haben das nämlich in Indien gelernt. Beim Kolonisieren. Eben.

Es ist LAWRENCE OF ARABIA (1962), Leans Meisterwerk, in dem er viele Motive dieses Kriegsfilms noch einmal bearbeiten sollte und europäisch-westliche Überheblichkeit ebenso wie Motive des Kolonialismus komplexer und ambivalenter thematisieren sollte. LAWRENCE OF ARABIA ist der bessere Film, auch wenn Leans Absicht, mit BRIDGE ON THE RIVER KWAI einen ambivalenten Blick auf die internen Herrschaftsstrukturen (und den Irrsinn) des britischen Empires zu zeichnen, offensichtlich ist.

BRIDGE ON THE RIVER KWAI war nicht nur ein äußerst aufwändiger und erfolgreicher, sondern auch ein immens einflussreicher Film. So hat, um einmal ein eher ungewöhnliches Beispiel für seinen Einfluss anzuführen, Sergio Leone für IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO (1966) einige Einstellungen des Films fast exakt übernommen – natürlich für die Sequenz, in der die von Clint Eastwood und Eli Wallach gespielten Galgenvögel im US-amerikanischen Bürgerkrieg eine Brücke sprengen müssen.

"Once a crook, always a crook": CRIME WAVE

CRIME WAVE

(VON DER POLIZEI GEHETZT)

André De Toth

USA 1954

DVD (Warner Bros. USA), OF, b/w

***1/2


CRIME WAVE ist ein kleiner, in Innenräumen oft erstaunlich hell ausgeleuchteter Noir von André De Toth, mit dem jungen Charles Bronson (damals noch Charles Buchinsky) in einer Nebenrolle als tough guy. Der Film ist fast durchgängig on location in Los Angeles fotografiert (was den Neo-hardboiled-writer James Ellroy im Audiokommentar auf der US-amerikanischen DVD mehrfach zu irritierenden Ausbrüchen verleitet). Insbesondere der einleitende Tankstellenüberfall ist realistisch, schnörkellos und für die damalige Zeit äußerst kaltschnäuzig inszeniert: Für eine Tankfüllung Benzin und einige Dollars wird kurzerhand ein Polizist erschossen. Hier belegt die Inszenierung De Toths Talent für ökonomisches Erzählkino von höchster Präzision: Trotz geringer Mittel ist kein Schnitt unbegründet, kein Meter Film zuviel wird verschwendet. Der folgende Plot wurde schon hunderte Male verfilmt, aber bis zu einem gewissen Maß ist er die Essenz des Nachkriegs-Noir: Ein Unschuldiger (Gene Nelson), der in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen hat, sie aber längst abgebüßt hat, wird von den alten Kumpanen wider Willen zurück ins Verbrechen gezogen. Sterling Hayden ist der harte Cop, der nach der Maxime „Once a crook, always a crook“ verfährt, und die Misere bis zum abrupt-unglaubwürdigen Happy End noch vorantreibt.

Letztlich sind es allumfassende Schuldgefühle, die sich im Dilemma der Hauptfiguren dieser Filme veräußerlichen. Einer soziologisch geprägten Lesart wäre es ein Leichtes, hier ein Echo der Wahrnehmung der Weltkriegsveteranen wieder zu finden: Das Gefängnis war der Krieg, die Rückkehr in die Gesellschaft problematisch, ihre Institutionen feindlich und über der gesamten Gegenwart hängt die Schuld von allem, was man im Krieg getan hat.


Montag, 10. November 2008

Rote Telefone: Duccio Tessaris L'UOMO SENZA MEMORIA

L’UOMO SENZA MEMORIA

(DER MANN OHNE GEDÄCHTNIS)

Duccio Tessari

I 1974

DVD (Koch Media, Deutschland), WS, OmU

***1/2


Ein Giallo von Duccio Tessari und Drehbuchautor Ernesto Gastaldi, beide höchst produktive Professionals des italienischen Genrekinos in den 60er und 70er Jahren. Wie Martinos LA CODA DELLO SORPIONE (wo Gastaldi Kodrehbuchautor war) beginnt auch dieser Film in einer „exotisch-mondänen“ Location Europas, hier die Finanzmetropole London, in der sich der Titelgebende „Mann ohne Gedächtnis“ (Luc Merenda) aufhält. Durch die Manipulationen eines ehemaligen Partners, ihm als Folge seines Gedächtnisverlusts natürlich nun unbekannt, wird er in die Provinz Mailand gelockt, wo ihn seine Frau (Senta Berger) erwartet.


Abgesehen von dem wie so oft hölzern agierenden Luc Merenda sind die Schauspieler angenehm kompetent. Auch sonst weicht der Film stärker als etwa Martinos quasi-epigonale Varianten von der durch Argentos Thriller etablierten Formel ab: kein Mörder mit schwarzen Handschuhen, keine übermäßig subjektive Kamera, wohl aber eine undurchschaubare Intrige (die das Publikum allerdings schnell erahnen mag) und eine extra-unglaubwürdige Auflösung. Wie so oft ist aber auch hier die Welt, in der dieser Giallo spielt, die des gehobenen Bürgertums. Da hat sich das Ehepaar in New York kennengelernt, man reist eben mal nach London zum Shoppen, der J&B-Whisky – damals wohl äußerst populär in Italien und häufig in diesen Thrillern zu sehen – wird mehrmals einem Statussymbol gleich präsentiert. Das Haus von Bergers Protagonistin ist mit Antiquitäten, Rattanmöbeln und Perserteppichen ausgestattet, moderne Gemälde mit bunten Farbflächen zieren die Wände. Böswillige Kritiker tauften diesen Typ Giallo in Anlehnung an die in der Oberschicht angesiedelten Komödien des Faschismus, die sogenannten Telefoni bianchi [= weiße Telefone], auf den Namen Telefoni rossi.


Ein besonderer Reiz des Films liegt in seiner visuellen Gestaltung, wobei besonders enorme Weitwinkel-Totalen und extreme Details auffallen. So füllt urplötzlich eine Mundpartie den gesamten Bildkader aus, und immer wieder wird die Kamera in auffälliger Untersicht positioniert. Manche Einstellungen sind von fast singulärem Innovationswillen, so etwa die mittels eines extremen Teleobjektivs gefilmte Einstellung, in der ein kleiner Junge alleine in den Gruppenduschen eines Schwimmbads steht und diese durch die reduzierte Tiefenschärfe wie eine Art Kinder-Waschstraße wirkt. Ein ähnliches Bild findet Kameramann Giulio Albonico am Anfang in London, wenn er Merenda durch die identischen Vorbauten der lokaltypischen weißen Reihenhäuser hindurch filmt. In solchen Momenten scheinen die Figuren ihrer Umwelt gänzlich entfremdet, verloren und isoliert in einer kalten Moderne. Einige äußerst gewalttätige Sequenzen, zu dieser Zeit geradezu unvermeidbar in einem italienischen Thriller, bietet Tessari dem Publikum natürlich auch. Und am Ende schwingt – tatsächlich – Senta Berger die Kettensäge! Alleine das macht den Film sehenswert.

Regression: Otto Premingers BUNNY LAKE IS MISSING

BUNNY LAKE IS MISSING

(BUNNY LAKE IST VERSCHWUNDEN)

Otto Preminger

UK 1965

DVD (Sony Pictures, USA), Scope, OF, b/w

***


Robert Aldrichs WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? (1962) und HUSH … HUSH, SWEET CHARLOTTE (1964), später dann die Aldrich-Produktion WHAT EVER HAPPENED TO AUNT ALICE? (1969) und Otto Premingers BUNNY LAKE IS MISSING: Die Regression von Erwachsenen unter der Bürde frühkindlicher Traumata als Trend im Kino der 60er Jahre, exemplifiziert in einer Reihe von Camp-Filmen anerkannter Regisseure. Fast alle dieser Filme sind in kontrastreichem Schwarzweiß fotografiert, nahezu von der Qualität „klassischer“ Noir-Lichtsetzung. Sie tragen weibliche Kose- oder Kindernamen im Titel und stellen Frauenfiguren ins Zentrum der Handlung, die oft von Familienangehörigen gequält und in den Wahnsinn getrieben werden. Das Melodram als Horrorshow: Melo goes Madhouse.


… BUNNY LAKE ist vielleicht der schwächste unter den angeführten Titeln, aber er ist gewiss kein schlechter Film. Zusammen mit Saul Bass’ gewohnt gutem Vorspann (eine Hand reißt die Leinwand methodisch in Fetzen) stechen insbesondere Nebenrollen und set pieces heraus. Wo Aldrich oppressive Kamerawinkel, ornamentale Bilder und harte Schnitte wählt, da ist die Kamera bei Preminger zumindest zu Beginn in fast jeder Einstellung in Bewegung: soghaft fließende, schweifende Erkundungen einer filmischen Welt, in der nur Wenig ist, was es scheint. Im Gegensatz zu Aldrich sind es nicht die staubigen oder sumpfigen Einöden Amerikas oder die adrette Fassade Suburbias, sondern das London der Swinging Sixties, in dem das moderne Schauermärchen angesiedelt ist. The Zombies machen die Musik dazu.

Aber es ist nicht London, von dem wir ganz touristisch Big Ben und Piccadilly Circus sehen, sondern die Innenräume, die dem Film seine eigentliche Kraft geben. Die Kindertagesstätte: hell, aber dubios; die Kammern einer hexenhaften Alten darüber; der aufdringliche Nachbar (herausragend schmierig: Noel Coward) in seiner höhlenhaften Behausung, umgeben von einer Sammlung afrikanischer Masken, Peitschen und Schädel – die beiden letzteren angeblich vom Marquis De Sade höchstselbst. Später dann ein Raum voller Tieren in Käfigen, ein geradezu barockes britisches Pub, eine Puppenklinik mit einem wunderlichen Alten und ein Krankenhaus mit langen Schatten und einem dunklen Keller voller dröhnender Maschinen. Ganz am Ende entführt uns Preminger in einen nächtlichen Garten, in dem Erwachsene auf Schaukeln schwingen, Verstecken spielen und ganz reale Gräber ausheben. Was bei Aldrich zum Grand Dame Guignol oder Southern Gothic wird, ist bei Preminger vor allem die Erwachsenenwelt mit Kinderaugen gesehen. Das erscheint schlussendlich, obwohl im Finale fast lächerlich campy überzogen, durchaus konsequent.



Donnerstag, 23. Oktober 2008

Bitteres Lachen: Mario Monicellis LA GRANDE GUERRA (europäische Komödie II.)

LA GRADE GUERRA
(MAN NANNTE ES DEN GROSSEN KRIEG)
Mario Monicelli
I-F 1959
DVD, Scope, OmU, s/w
****1/2


Mario Monicelli zählt zu den Meistern der Commedia all’italiana, der Filmkomödie Italiens, die insbesondere in den 50er und 60er Jahren beim Publikum äußerst erfolgreich war. In vieler Beziehung weicht die italienische Komödie von anderen nationalspezifischen Varianten Europas ab. Stärker an die Wurzeln des europäischen Stegreiftheaters zurückgehend, ist sie oft vulgär und proletarisch, ihre Protagonisten amoralisch und stereotypisiert, die Hauptfiguren bestenfalls Anti-Helden. Der schwarze Humor und die absurde Spiegelung der Realität ist ihre Domäne. Monicelli hat in einem Interview einmal seine historischen Komödien wie folgt charakterisiert: „All Italian comedy is dramatic. The situation is always dramatic, often tragic, but it's treated in a humorous way. But people die in it, there's no happy ending. That's just what people like about it. It deals with death, hunger, poverty, illness“. Der spezifisch „italienische“ Humor dieser Filme gründet dabei in der Vermischung von Komik, Melodramatik, Politik und Horror; alles vom riso amaro, dem bitteren Lachen, geeint. Das Italien-Lexikon beschreibt die von dem Autorenteam Age & Scarpelli geschriebenen Komödien, die auch die Koautoren von LA GRADE GUERRA sind, entsprechend als "oft noch hoffnungsloser als die neorealistischen Filme […] Die Personen werden meist von der Geschichte gebeutelt und haben unwiderruflich jedes bürgerliche Ideal verloren […]. Die Komödie auf italienisch setzt den Mißerfolg, das Lächerliche und Formen des Elends in Szene". Der Semiotiker Jurij M. Lotman hat an Pietro Germis Komödien die italienische Tradition dieser Filme herausgestrichen, deren Zynismus nicht selten ausländische Zuschauer schockierte:

"Hier sollte man sich an die Sprache des Puppentheaters und der commedia dell'arte erinnern, in denen der Tod eine komische Episode, der Mord eine Buffonade und das Leiden eine Parodie sein kann. Die Härte des italienischen [...] Volkstheaters steht in unmittelbarer Beziehung zu seiner Konventionalität. Der Zuschauer ist sich dessen bewußt, daß auf der Bühne Puppen oder Masken agieren, und empfindet ihren Tod oder ihre Leiden [...] im Sinne einer rituellen Maskerade. [...] [Doch] die plebejisch grobe, marktschreierische Sprache [...] [dieser] Filme birgt nicht weniger Möglichkeiten sozialer Kritik als der [...] Stil der Individualisierung des Schauspielers und der Humanisierung der Bühne."

Mit ihrer Mischung aus Komik und Tragik wäre die italienische Komödie gewiss aus Platons Ideal-Staat ausgewiesen worden, für den der Philosoph doch die Reinheit der Kunst vorsah – wenn die italienische Komödie eines ist, dann von erfrischender Unreinheit.


„Ho lasciato la mamma mia / l’ho lasciata per fare il soldà“ – „Ich habe meine liebe Mama verlassen / ich verließ sie, um Soldat zu werden“. LA GRADE GUERRA eröffnet mit dieser melancholischen Soldatenweise Nino Rotas, doch schon die Bilder stellen sich dazu in boshaften Kontrast: Stiefel stapfen durch Schlamm, der Titel „der große Krieg“, gemeint ist der Erste Weltkrieg, erscheint zum Blick in eine graue Eintopfsuppe, eine dreckige Hand schneidet einen Laib Weißbrot, eine Feldflasche wird aufgefüllt, Zigaretten gerollt, Postkarten beschriftet, ein Knopf angenäht, dann abermals Stiefel, die bandagiert werden, um sogleich wieder durch den Schlamm zu marschieren. Eintönigkeit, Entindividualisierung, Langeweile. Einmal heißt es in diesem Film, der Krieg würde vor allem aus Warten bestehen; dem Warten in durchnässter Kleidung auf die Essensration, die sowieso nie kommt; auf die Heimat, die man unfreiwillig verlassen hat; auf das Kriegsende, das man sowieso nicht erleben wird. Heldentum werden wir in diesem Film nicht zu sehen bekommen. Und wenn die Protagonisten einmal – wohlgemerkt: aus Trotz und Unwissenheit – ein militärisches Geheimnis bewahren, so müssen sie es bitter bezahlen.


Die von Alberto Sordi und Vittorio Gassman gespielten „Helden“, ein Römer und ein Mailänder, sind vor allem fessi, Idioten, aber ihr Drückebergertum erscheint in jedem Fall vernünftiger als falscher Heroismus. Und es sind gerade ihre Kleinlichkeiten und unnützen Streitereien, die sie menschlich und uns sympathisch machen. Umso grausamer wirkt es, wenn Monicelli sie kurz vor dem Ende des Films nonchalant nacheinander in distanzierenden Totalen von den Österreichern füsilieren lässt. Der Epilog ist dann vielleicht wirklich zynisch: Ein ehemaliger Vorgesetzter sieht inmitten des Schlachtens die Leichen der beiden: „Sogar diesmal kommen diese Faulenzer einfach davon!“, so sein Kommentar. Die Kamera steigt in die Höhe, die Soldatenmassen rennen weiter in den Tod. Fine. Der Effekt ist niederschmetternd und auch dies unterscheidet Monicellis Filme zusammen mit einigen anderen italienischen Komödien so stark von deutschen und amerikanischen Vertretern des Genres: Außer den Italienern hat niemand die Frechheit (bzw. den Mut), seine Komödie damit zu enden zu lassen, dass der Hauptprotagonist mit einem Mord durchkommt (wie in DIVORZIO ALL’ITALIANA / SCHEIDUNG AUF ITALIENISCH, 1961), totgeprügelt wird (wie in Wertmüllers FILM D’AMORE E D’ANARCHIA… / LIEBE UND ANARCHIE, 1973), oder eben wie hier standrechtlich erschossen wird.

Auch formal ist Monicellis aufwändig produziertes Werk durchaus beeindruckend: Das Scope-Format wird oft bis ganz an den äußersten Rand ausgenutzt, die Schwarzweiß-Fotografie ist kontrastreich und immer wieder finden sich flüssige oder gänzlich statische Plansequenzen (etwa die nach ca. einer Stunde im Film in der Notunterkunft). Die Massenchoreografie ist so effektiv wie der Humor boshaft und gegen jede Organisation gerichtet ist: Ein junger Soldat stirbt, weil er ein versiegeltes, also vermeintlich wichtiges Schreiben durch die feindlichen Linien trägt – tatsächlich sind es nur Weihnachtsgrüße der Offiziere untereinander. Ein anderer übernimmt für wenige Lire jede Selbstmordmission, um Geld für Frau und Kind zu sammeln. Er stirbt schließlich bei einem „normalen“ Einsatz; also umsonst. Wieder ein anderer schwingt große Reden darüber, dass Arbeiter wie er an der Heimatfront gebraucht werden würden – es stellt sich raus, dass er im Zivilleben Friseur ist. Und grundsätzlich ist hier jeder, der sich in Monicellis absurd und zugleich oft realistisch gezeichneter Kriegswelt an die Regeln hält, der wahre Idiot. Mittendrin dann ein ausgesprochen poetischer Moment: Eine junge Hure hat keine Lust mehr, von den Soldaten wie Dreck behandelt zu werden und schmeißt ihren Beruf hin. Ein Soldat bekommt dies mit und macht ihr daraufhin den Hof, ganz so, als ob sie eine echte Dame wäre. Beide spielen das Spiel bis zu Ende und doch ist beiden klar, dass sie dem jeweils Anderen eine Rolle vorspielen – und dass der das auch weiß. Nach der gemeinsamen Nacht stiehlt sie ihm trotzdem das Portemonnaie. Später im Film treffen sie sich dann wieder. Sie hält ihn mit einer Handgranate (!) in Schach, gibt ihm aber schließlich seine Brieftasche wieder, da er darin ein Kinderbild aufbewahrt. Sie nimmt an, es müsse das seines Sohns sein. Er: Das bin ich als Kind. Sie: Welcher Idiot läuft mit seinem eigenen Kinderbild herum? Fesso!

LA GRANDE GUERRA und Monicellis L'ARMATA BRANCALEONE (1966) nahmen in vieler Beziehung Trends vorweg; den absurden Humor in Richard Lesters MUSKETEERS-Filmen (1973/74) und ROYAL FLASH (1975) ebenso wie Leones ahistorischen Behandlung des US-amerikanischen Bürgerkrieges und der Mexikanischen Revolution in IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO (1966) und GIÙ LA TESTA (1971), natürlich auch Monty Pythons Genreparodien in den 70ern.


Sonntag, 12. Oktober 2008

Eisregen: Olivier Marchals MR 73

MR 73

Olivier Marchal

F 2008

DVD (Paramount, Frankreich), Scope, OmU

****


Völliges Schwarz, pechdunkel wie die Nacht. Eine Frage aus der Finsternis: Ob er getrunken habe? Eine raue Männerstimme verneint. Dann: eine übernahe Großaufnahme, von den Augenbrauen bis zur Mundpartie, ganz im Stil des jungen Samuel Fullers und Sergio Leones: Daniel Auteuils zerfurchtes Gesicht im Viertelprofil, in Schwarzweiß, die getönte Sonnenbrille verdeckt die Augen. Worüber er denn sprechen wolle, fragt die Ärztin im Umschnitt. Unvermittelt fragt er, ob sie an Gott glaube. Sie bejaht, stellt die Frage zurück. Er glaube, entgegnet er, dass Gott ein Hurensohn sei. Und: „Eines Tages werde ich ihn töten.“ Ein Schnitt katapultiert den kaputten, alten Mann in der Zeit vor; es könnte auch in die Vergangenheit sein, das wissen wir hier noch nicht. Mit glasigen Augen sitzt er in einem öffentlichen Bus, starrt trübe vor sich hin, offenbar betrunken. Dann kramt er umständlich eine zerknautsche Kippe hervor und zündet sie an. Dazu erklingt Leonard Cohen: „Avalanche“ (1970). Bald darauf wird er den Bus mit vorgehaltener Waffe kidnappen.


So beginnt Olivier Marchals neuer Film policier. Und eine avalanche, eine Eislawine, ist der Film tatsächlich geworden. Marchals an den jüngeren Stilisten des Kinos, an Jean-Pierre Melville, Sergio Leone und Michael Mann geschulter Stil ist noch kälter geworden, durchgängig fröstelt es einem, so grausam ist diese Welt, in der alle vollständig sich selbst und der Gesellschaft entfremdet sind. Hier prügeln sich die Polizisten noch an den Tatorten um die Kompetenzen und selbst in der Leichenhalle entsteht eine Schlägerei ums Beweismaterial. Auteuil spielt Kommissar Schneider, einen Marseiller Polizisten, der nach dem Tod seiner Tochter und der Verkrüppelung seiner Frau an der Krankheit zum Tode leidet, oder wie es bei Cohen heißt: „Well I stepped into an avalanche / It covered up my soul”.

Die Episode mit dem Bus wird schnell von den Vorgesetzten vertuscht – vielleicht verstehen sie den Schmerz des Mannes, vielleicht ist es schon so sehr zur Routine geworden, Fehlleistungen zu kaschieren, Korruption zu verdecken, Beweise verschwinden zu lassen. Wir werden das jedenfalls noch einige Male in diesem Film sehen. Das ist Teil der Genreebene des Films; Paranoia und Narzissmus gehören zum Polizeifilm wie Pferde in den Western. Und besonders der französische Polizeifilm war oft eine Meditation über Entfremdung und über die Suche nach Erlösung. Im Film policier und seinen Noir-Varianten lebt der Existenzialismus fort; die Hölle, das sind hier die anderen. Und in MR 73 haben wahrlich fast alle Menschen die Hoffnung verloren, und Marchal in sie. Das erinnert ein wenig an Melvilles LE CERCLE ROUGE (VIER IM ROTEN KREIS, 1970), an den Vorgesetzten, der dort erklärt, es gäbe keine Unschuldigen: Alle sind schuldig, ausnahmslos. Schneider jedenfalls benötigt dringend Erlösung; die Selbstzerstörung des Protagonisten durch Alkohol wurde im Polizeifilm wohl nur in Abel Ferraras BAD LIEUTENANT (1992) ähnlich radikal betrieben. Mit fettigen Haaren, immer noch besoffen, die Hosen vollgepisst, wird Schneider in der Arrestzelle geweckt und vor die internen Ermittlern gestellt. Nachdem er gegangen ist, meint der Kollege, er sei eine Zeitbombe. Die Kollegin ergänzt, das allerdings seien sie alle. Das ist doppelt wahr: Einmal weil Schneider am Ende des Films tatsächlich ein Blutbad anrichten wird und zum anderen, weil die Schauspielerin Catherine Marchal bereits im Regiedebüt ihres Ehemannes eine Polizistin spielte, die alles aufs Spiel setzt – und alles verspielt.

Vordergründig erzählt MR 73 von der Suche nach einem Serienvergewaltiger und -mörder, der im Modus eines bereits verhafteten Täters vorgeht (der wird wiederum gespielt von Philippe Nahon, dem Schlachter aus Gaspar Noés nihilistischen Filmen). Gegen Ende des Films ist der junge Mörder tot, aber der alte wird wieder in die Freiheit entlassen und hat sich nicht um ein Jota verändert. Das Böse wird immer in der Welt bleiben: Fängt man den einen ein, so geht draußen bereits der nächste um. Schneider trifft in der jungen Justine (Olivia Bonamy), deren Eltern von Nahons abstoßender Figur abgeschlachtet wurden, seinen Engel aus Staub, seine Chance auf Erlösung. Bonamy spielt sie als New-Wave-Engel mit blondierten, vom Kopf abstehenden Haaren und schwarzen Augen, die direkt in den Abgrund blicken lassen. Einmal sagt Schneider, Niemand wolle, dass es geschieht und doch geschehe es. Und am Ende geschieht es tatsächlich; nur anders, als man erwartet.

So düster der Plot von Marchals Films ist, optisch hat er einen Schwarzweißfilm in Farbe gedreht. Viele Sequenzen sind entweder farbentsättigt oder in einer monochromen Farbpalette eingerichtet; mal blaugrau, dann sepia, dann wieder graubraun, rostrot, ein anderes Mal sind es lediglich Schneiders rot getönte Brillengläser, die Farbe ins Bild bringen. Die Rückblenden sind sowieso Schwarzweiß. In die dunklen Innenräume frisst und schneidet sich Licht in gleißenden Bündeln durch Jalousien oder Fenster. Zu Anfang des Films, in der Arrestzelle, in den Duschen im Knast und in den Fluren davor, scheinen die Wände geradezu wegzufaulen, aufgerissen und aufgeplatzt begrenzen sie den blaugrau ausgeleuchteten Raum. Auch das Draußen ist wenig einladend. In einer Aufsicht spät im Film auf eine wüste Landschaft erscheint auch diese wie von Schimmel befallen. Manchmal wirkt das alles näher an der Welt Victor Hugos als an der Moderne. MR 73 ist ein Film aus einem Schattenreich, zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelnd und beides ist doch gleich grässlich. Die MR 73 im Titel ist übrigens ein Revolver, eine Polizeispezialanfertigung. Sie wird erst spät im Film eingeführt und funktioniert vor allem als Referenz an frühere Films policier wie Alain Corneaus POLICE PYTHON 357 (1976). Auch wenn Marchal wie hier viel zitiert und auf andere Filme verweist, insbesondere auch auf POUSSIÈRE D’ANGE (1987), so ist es ihm mit dem Abschlussfilm seiner Polizeifilmtrilogie doch gelungen, den Dunkelschattierungen des französischen Polizeifilms eine ganz eigene Nuance hinzuzufügen.


Stuss: RIGHTEOUS KILL

RIGHTEOUS KILL
Jon Avnet
USA 2008
Kino, Breitwand, OF
*1/2


De Niro und Pacino. Pacino und De Niro. Zwei Stars, die sich angeblich nicht leiden können, zwei große Schauspieler Hollywoods in einem Film. Als Partner, wohlgemerkt, nicht als Rivalen wie noch in Michael Manns HEAT (1999). Am Ende des Films sind sie dann aber doch wieder Gegner.


Die Montage des Films scheint vom beiderseitigen Geltungsdrang Zeugnis abzulegen. Bekommt De Niro eine Großaufnahme, so auch Pacino in der nächsten Einstellung. So geht das den ganzen Film, bis man irgendwann das Gefühl bekommt, im Vertrag beider Schauspieler wurde explizit festgelegt, sie müssten exakt gleich viele Großaufnahmen wie der jeweils andere erhalten, zudem in der gleichen Einstellungsgröße. Da beide folglich fast nie zusammen im Bild auftreten und der Film vor allem von der Sensation „Pacino und De Niro, seit HEAT erstmals wieder in einem Film!“ sein Kapital ziehen will, wirkt das alles ein wenig wie ein Tennismatch: Pacino, Großaufnahme, links im Bildkader angeordnet. Schnitt. De Niro, Groß, rechts im Bild angeordnet. Cut wieder zu Pacino in der gleichen Einstellung usw.


Auch sonst bietet der Film wenige Überraschungen. Die üblichen abgedroschenen Polizeifilm-Klischees, die beiden alten Herren, De Niro ist 65, Pacino immerhin 68, agieren tapfer gegen das schwache Drehbuch an, wobei De Niro wirkt, als ob ihn das Interesse an tough guys schon lange abgeht. Der Regisseur versucht sich filmisch mehr schlecht als Recht an aktuelle Stilismen anzulehnen. Am Anfang will Avnet etwa Figuren und Milieu mit schnellen Schnitten und einer abrupten Montage etablieren, doch es gerät ihm nur zum konfusen Machozirkus. Unweigerlich muss man an Scorseses THE DEPARTED (2006) denken und daran, wie meisterlich der das Polizei-Milieu und die Ausbildung in wenigen Minuten mit einer komplexen Montage zusammenzuraffen vermochte. Später setzt Avnet in den Verhören Splitscreens ein. Doch auch ein De Palma ist er nicht: Dazu fehlt ihm der Mut zur reinen, barock verschnörkelten Oberfläche. Am schlimmsten ist aber, dass der ganze Film auf den wohl durchschaubarsten Plot-Twist der letzten zehn Jahre hinzu konstruiert ist und diesen schließlich mit bitterernst gemeinter, selbstherrlicher Geste aufdeckt. Wer sein Publikum für so dumm hält, kann einfach nur völlig arrogant sein. Oder strohdumm.



Donnerstag, 2. Oktober 2008

Schießbudenfiguren: DER BAADER-MEINHOF-KOMPLEX


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DER BAADER-MEINHOF-KOMPLEX
Uli Edel
D 2008
Kino, WS
**1/2

Das ist er also: Bernd DER UNTERGANG Eichingers Version von Stefan Austs mittlerweile um die 700 Seiten dicker, ziemlich detailversessener RAF-Aufarbeitung. Der Anfang ist richtig gelungen: Berlin in den späten 60ern, Schah-Besuch, Jubelperser mit Dachlatten, Bullen mit Knüppeln, US-amerikanische Popmusik. Da springt etwas über von dem Gefühl ohnmächtiger Wut, das einige damals dazu brachte, zu rebellieren, aufzubegehren, schließlich sogar zu den Waffen zu greifen. Doch danach geriert alles schnell zum kompetent gemachten, sinnleeren Ausstattungskino. Edel und Eichinger arbeiten sich sklavisch daran ab, so viel wie möglich von zehn Jahren bewaffnetem Kampf und Staatsgewalt in 150 Minuten zu pressen und dabei nahezu jeden bekannteren Schauspieler Deutschlands zumindest in einer Nebenrolle unterzubringen. Da reiht sich Attentat an Exekution, gewaltsamer Übergriff an staatliche Gegenaktion; Boom-Boom, Bang-Bang. Von den Figuren und ihren Motiven erfahren wir jedoch fast nicht. Die RAFler reden alle Flugblatt-Sprech: „Wir müssen den anti-imperialistischen Kampf in die Welt tragen“, „der Kampf hat sich internationalisiert“, oder so ähnlich. Das sind die Dialoge, die Edels / Eichingers Terroristen bestenfalls führen dürfen. Intellektuelle Debatten finden nie statt, alles bleibt purer, leerer, letztlich sinnloser Aktionismus. Und Bruno Ganz, Eichingers Hitler, zeigt als Horst Herold Verständnis, während er Hummersuppe an seine Mitarbeiter ausschenkend düster vor sich hinraunt – der BKA-Beamte als Seher, als Schamane. Am anderen Ende der Skala: Moritz Bleibtreus Baader: fast immer brüllend, Schaum vorm Mund, das böse Wort „Fotze“ schließt zumindest gefühlt jeden zweiten Satz ab. Ein purer Macker, nichts sonst. Da er aber wenigstens keine Stuss-Politmonologe absondern darf, wird er fast zur alleinigen Identifikationsfigur des Films. Im fast ausverkauften Kino haben zumindest immer alle gelacht, wenn er wieder brüllen durfte: „Halt’s Maul, Schlampe!“ oder: „Ficken und Schießen sind ein und die gleiche Sache.“

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Sergio Martinos "Giallo" LA CODA DELLO SCORPIONE

LA CODA DELLO SCORPIONE

(THE SCORPION’S TAIL aka THE CASE OF THE SCORPION'S TAIL aka DER SCHWANZ DES SKORPIONS)

Sergio Martino

I-E 1971

DVD, Scope, OmU

***1/2


Der italienische Kriminalfilm der Nachkriegszeit hat im Wesentlichen drei bedeutende Varianten hervorgebracht. Da sind einmal die gialli politici, die kritischen Kriminalfilme im Stil des cinema di denuncia, in denen alles "auf eine descrizione [hinausläuft], eine Beschreibung [...], in der eine Anklage an die Realität die zentrifugale Stellung einnimmt" (Sandro Moraldo). Dann gibt es die populistischen film poliziotteschi, bisweilen auch als film polizieschi-gangsteristici bezeichnet: actionreiche B-Filme von Regisseuren wie Umberto Lenzi und Enzo G. Castellari (= Girolami). Ihre Filme kombinierten in den 70er Jahren Motive von Gangsterfilm und Polizeifilm, lehnten sich deutlich an US-amerikanische Vorbilder wie z. B. die Roger-Corman-Produktionen an und entwarfen mit rücksichtslosen Ermittlerfiguren und überzogen psychotischen Verbrechern ein populistisches, oft rechtsgerichtetes Gegenmodell zu dem kritisch-deskriptiven Kriminalfilmen der linken Aufklärer. Die dritte Variation bilden die barock-blutrünstigen film gialli dell'orrore, die am ehesten mit dem Werk von Regisseuren wie Mario Bava und Dario Argento verbunden werden. Diese äußerst artifiziellen Kriminalfilme waren nahe am Horrorfilm (film dell'orrore) angesiedelt und damit das eskapistischste oder zumindest das am weitesten der Realität entfernteste Modell des Giallo. Zugespitzt könnte man den drei Varianten die Schlagwort Verismus, action und Oberflächenreiz zuordnen.

In der internationalen Filmkritik hat sich ausgehend von Fanartikeln die Verwendung des Terminus Giallo für die Filme Bavas, Argentos und ihrer Nachfolger etabliert, auch wenn film giallo genau genommen doch grundsätzlich den italienischen Kriminalfilm bezeichnet. Der idiomatische Begriff geht auf die populären Kriminalromane des Mondadori-Verlages zurück, der ab 1929 eine Serie von Kriminalromanen in gelben (= giallo) Umschlägen veröffentlichte. Tatsächlich sind viele der italienischen Kriminalfilme auch im weitesten Sinne eher film polizieschi, da sie Polizisten oder Staatsanwälte als Ermittlerfiguren in der Hauptrolle haben. Doch weder für die Gialli in der Nachfolge Bavas und Argentos noch für die politischen Kriminalfilme wäre eine solche Bezeichnung zutreffend; in den einen Filmen sind die Ermittlerfiguren weitgehend unbedeutend, und die Erzählungen der kritischen Kriminalfilme laufen strukturell auf deren Dekonstruktion hinaus. In gewisser Weise ist der Begriff Giallo heute außerhalb Italiens zu einer Art virtuellem Genre geworden, in etwa vergleichbar der Genese des Begriffs Film Noir. Was also sonst als Giallo firmiert, ist im Wesentlichen die Formel film giallo dell'orrore.


Nach dem Veteranen des Subgenres Bava und seinem Meister Argento ist Sergio Martino so etwas wie der Thronanwärter, oder, wollte man es böse formulieren: der Epigone der Formel film giallo dell'orrore. Martinos LA CODA DELLO SORPIONE, wie viele der End-60er/Anfang-70er-Gialli mit einem blümeranten Titel inklusive Tiernamen darin ausgestattet, wirkt zunächst wie eine Art Tourismus-Giallo. Statt in Italien spielt Martinos Film in London und Griechenland, die Akropolis, natürlich, sehen wir einmal pittoresk im Hintergrund. Ansonsten aber werden alle, der seit Bavas SEI DONNE PER L’ASSASSINO (I-BRD-F 1964) und Argentos L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO (I-BRD 1970) etablierten Motive der Formel durchgespielt: Frauen in damals modischen Kostümen; ein schwarz gekleideter Killer mit ebenso schwarzen Handschuhen; deformierte Puppen und gewundene Wendeltreppen; Blut, so rot wie Lackfarbe. Des Weiteren: formale Experimente, etwa eine ganze Sequenz, die in einer Einstellung eingefangen wird, wobei die Kamera um 90 Grad gekippt ist und hin und her pendelnd die Figuren einfängt; die Tendenz dazu, scheinbar gegensätzliche und extreme formale Mittel (etwa enorme Weitwinkel und übernahe Details), nicht nur in einer Sequenz einzusetzen, sondern gegeneinander zuschneiden (etwas, was das europäische Genrekino dieser Ära im Besonderen gegenüber dem US-amerikanischen auszeichnet); natürlich auch die subjektive oder besser: subjektivierende Kamera in den Mordsequenzen, in denen bisweilen auch primärfarbiges Licht zum Einsatz kommt; grundsätzlich deren Einrichtung als set pieces; natürlich auch der Sadismus des Killers, der von der Polizei als „sexuell Perverser“ bezeichnet wird. Typisch ist zudem die Figur des extrastaatlichen Ermittlers, der als Aufklärer des Mord-Komplotts fungiert, hier ein Versicherungsdetektiv und eine Journalistin; das Misstrauen der Polizei gegenüber dem Protagonisten (dieses Mal ausnahmsweise berechtigt) und, am Ende dann, die denkbar unglaubwürdigste Auflösung des Falls.

Die Krimis italienischer Machart sind keine Whodunnits, eher Howdoits, denen die Oberfläche alles zählt und die darum auch wesentlich kinematografischer sind, als die Filme, die sich für eine logische Detektion interessieren. Hätten die Italiener nur ein wenig öfter etwas mehr Sorgfalt auf die Konstruktion ihrer Geschichten verwandt, sie hätten ein Meisterwerk nach dem anderen produzieren können. Aber vielleicht hätten sie dann auch nicht mehr so viel Sorgfalt für die formalen Aspekte aufwenden können.

Empfehlenswert ist die US-amerikanische DVD des Labels No Shame: Korrektes Breitwand-Format, lebendige Farben, Originalton mit Untertiteln und sogar ein wenig Bonusmaterial. Die deutsche DVD hat dagegen ein äußerst matschiges Bild.


Märchenwelt: Alexandre Ajas MIRRORS

MIRRORS
Alexandre Aja
USA-RU 2008
Kino, Scope, OF
***1/2


SHINING (1980), THE EXORCIST (1973), ALIEN (1979), Scorseses MIRROR MIRROR aus dem AMAZING STORIES (1986) und vieles weitere werden hier zitiert. Das Remake eines koreanischen Films von Sung-ho Kim ist das Ganze auch, zudem von einem Franzosen, mit US-amerikanischem Geld z. T. in Rumänien gedreht. Ein spätmodernes Produkt des Kinos also, oder eher der Postmoderne, Ergebnis von Vermischungs- und Kreolisierungsprozessen; der Horrorfilm through the looking glass. Der Plot ist ziemlicher Stuss, aber das stört auch nicht sonderlich; am Ende gibt es gar eine Killernonne, die Spinnengleich die Wände hochgeht.


Aja ist der Märchenerzähler unter den neuen Horrorfilmern und das macht ihn gegenüber den heutigen Folterfilmern so sympathisch: Sein Meisterwerk HAUTE TENSION (2003) und der eher schwache THE HILLS HAVE EYES (2006) waren bereits klar als Märchen erkennbar: Im Kern Geschichten von nicht folgsamen Kindern, die im dunklen Wald oder im Urlaub mit den Eltern den eigenen Monstern begegnen. Das Beste an dem von Aja produzierten P2 (2007) war das Ende, als der Film sich vollständig der fantastischen Stimmung hingibt, den Blick auf die Stadt im Schneegestöber richtet, ganz so, als ob alles in einer dieser faustgroßen Glaskugeln für Kinder stattgefunden hätte, als ob der Regisseur die darin eingeschlossene (vor der Realität abgeschlossene) filmische Welt einfach mal durchgeschüttelt hat, damit die Flocken in ihr tanzen. Auch MIRRORS hat ein ähnliches Ende, bei dem der Protagonist (Kiefer Sutherland), man ahnt es schon sehr früh, hinter den Spiegeln verschwindet. Natürlich gibt es auch zwei, drei heftige Bluteffekte, einer davon ist geradezu viehisch; ein Horrorfilm ist das Ganze doch. Reizvoll ist auch, wie Aja das Geschehen immer wieder durch Spiegel filmt, ohne allerdings gleich mit großem Tara aufzudecken, dass wir nur eine Reflektion gesehen haben.



MONDO CANE: "Dokumentar"-Film als Exploitation

MONDO CANE

Paolo Cavara / Gualtiero Jacopetti / Franco Prosperi

I 1962

DVD, FS, EF (86 min, Woodhaven Entertainment, cut?)

*1/2


Der Albtraum eines jeden Ethnologen: Eine Gruppe italienischer Exploitationfilmer schickt sich an, uns über die Absonderlichkeiten der Menschheit „aufzuklären“. Der Schnitt wirft uns vom Hundezwinger zu afrikanischen Stammesritualen, vom US-amerikanischen Hundefriedhof in ein Korallenatoll, in dem Südseebewohner ihre Toten versenken. Viel Tier- und Menschquälerei und Elend aus der „Hundewelt“ (mondo cane) wird präsentiert, mit süffisant-zynischem Kommentar aus dem Off zusammengekleistert, immer hält die distanz- und gnadenlose Kamera voll drauf. Die Bilder von den Trinkern auf der Reeperbahn zählen wohl zum Unbarmherzigsten, dem ich bislang begegnet bin, und, ohne hier falsche Analogien ziehen zu wollen, diese Inszenierung erinnert, in der Haltung wohlgemerkt, nicht in Bezug auf den Antisemitismus, an den perfiden Kamerablick von Machwerken wie „Der Ewige Jude“ (1940). Interessant ist an diesem Kompendium der Verachtung allenfalls, das es bis zu einem gewissen Maß eine Aufmerksamkeit dafür erzeugt, was Dokumentarfilme normalerweise nicht zeigen. Von allen Bildern, die das Filmteam von Menschen gesammelt hat, sehen wir immer nur die hässlichsten. Immer den Moment, wenn jemand in der Nase bohrt; oder jemanden, der unpassend gekleidet ist; der unserer (westlich-)tradierten Wahrnehmung als ausgesprochen hässlich erscheint. Kurz: all das, was sonst die Pietät geboten hätte, herauszuschneiden, wird hier Perlen an einer Schnur gleich aufgereiht. Würde man das Ganze ernst nehmen, so ließe sich hier nur Menschenverachtung oder besser: Welt- und Menschenhass finden.

Für wen wurde ein solcher, im Übrigen zu seiner Zeit extrem erfolgreicher Film eigentlich gemacht? In den Dreck werden fast alle gezogen. Zugute halten könnte man Jacopetti, Prosperi und Cavara auf den ersten Blick, das sie auch italienischen Aberglauben und religiöse Verstümmelungsrituale ausstellen. Andererseits zeigen sie dies wohl vor allem, weil das Material so leicht zu filmen war (bzw. im Archiv zu finden). Der Rest ist eurozentristische Verachtung den „Wilden“ der „unterentwickelten“ Länder gegenüber, antiamerikanisches wie antideutsches Ressentiment (ungewöhnlicherweise findet sich kein Beitrag über französische „Sitten“ – waren keine Bilder vom Froschenkel-Essen oder Ähnlichem zu erhalten?). Aber das Material aus Italien greift entweder die katholische Kirche an oder es zeigt uns „unterentwickelte“ Süditaliener, was dann auch nicht mehr verwundert. Letztlich nimmt der Film eine überheblich-norditalienische Kleinbürgerlichen-Perspektive ein, die jeder Devianz gegenüber nur Verachtung bereit hält und deren Hass sich, als mondän-dekadente Neugier verkleidet, in einer arroganten Freakshow äußert. Eine ähnliche Geisteshaltung wie hier dürfte dem Kolonialismus vergangener Jahrhunderte zugrunde gelegen haben. Interessant wäre es, herauszufinden, ob „Mondo Cane“ speziell im Süden oder im Norden Italiens erfolgreich war. Ich weiß es nicht. Von den Regisseuren und Drehbuchautoren ist jedenfalls nur Cavara Norditaliener und stammt aus Bologna, Jacopetti wurde im toskanischen Barga und Prosperi in Rom geboren.


Lange vor jeder political correctness entstanden, wurden die Regisseure dieses Prototyps aller modernen „Shockumentaries“ u. a. in Cannes (1962) für die Goldene Palme nominiert und ein Musikstück Riz Ortolanis und Nino Olivieros war 1964 für den Oscar nominiert. Die italienische Filmindustrie verlieh „Mondo Cane“ 1962 den David di Donatello als beste Produktion. Das alles ist im Rückblick fast unfassbar.